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Aus: Ausgabe vom 27.09.2025, Seite 5 / Inland
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Tik Tok lagert aus

Einigungsstelle im Kündigungsstreit bei Tik Tok eingesetzt. Tätigkeit oft mit hohen Belastungen für Beschäftigte verbunden
Von Luca von Ludwig
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Moderation ist essentiell für das soziale Netzwerk, Kosten soll sie aber möglichst wenig

An einem kalten Donnerstag morgen stehen vor dem Berliner Arbeitsgericht gut 30 Menschen in grellen Warnwesten: unverkennbar eine deutsche Gewerkschaftskundgebung. Es ist der dritte Tag eines von Verdi organisierten Warnstreiks, zu dem die Gewerkschaft ihre Mitglieder beim Kurzvideodienst Tik Tok in dieser Woche aufgerufen hatte. Der Social-Media-Konzern plant, sein Berliner Team zur Moderation von Inhalten auszulagern, teils an Subunternehmen, teils an künstliche Intelligenz. Das nennt sich Outsourcing, etwa 150 Beschäftigten droht die Kündigung.

Bei dem Gerichtstermin geht es um die Einsetzung einer Einigungsstelle, die einen Interessenausgleich festlegen soll. Verdi fordert unter anderem eine Abfindungszahlung von drei Jahresgehältern, Tik Tok will dem nicht entgegenkommen. Wenig überraschend wird kurz vor Mittag entschieden, die Einigungsstelle einzuberufen. Das weitere Schicksal der Beschäftigten liegt damit faktisch in der Hand des noch zu bestimmenden Stellenvorsitzenden.

Viele der Tik-Tok-Beschäftigten kommen – wie in der Branche üblich – nicht aus der BRD, sondern sind im Ausland angeworbene junge Menschen, die, oftmals nach dem Studium, einen Einstieg in die Techbranche suchen. Ihre Visa und damit die teils jahrelang hier aufgebauten Leben stehen bei Jobverlust auf der Kippe. Sprachbarrieren und geringe Vertrautheit mit dem deutschen Arbeitsrecht waren Herausforderungen für die gewerkschaftliche Organisierung, berichtet Verdi-Verhandlungsführerin Kathlen Eggerling.

Dennoch habe man es geschafft, gut 70 Prozent der Beschäftigten zu organisieren. »Wir haben mittlerweile Teams von migrantischen Gewerkschaftern, die verschiedene Sprachen sprechen, das wird immer notwendiger«, erzählt sie bei der Kundgebung vor dem Arbeitsgericht. In anderen Ländern sei es wegen der Regulierungen oft noch viel schwieriger. Auf dem Streikposten wird von den Kündigungswellen in anderen europäischen Sitzen der Firma berichtet, Hunderte Stellen, zum Beispiel in Amsterdam, London oder Dublin, seien in Gefahr.

Der Job der Contentmoderatoren ist kein leichter. Jede Sekunde werden im Schnitt rund 3.500 Videos auf Tik Tok hochgeladen, wie eine internationale Studie mehrerer Universitäten ergab. Auf 24 Stunden gerechnet macht das etwa eine viertel Milliarde Posts. Extreme Gewalt, Selbstmorde, sexuelle Übergriffe, auch gegen Minderjährige – alles Dinge, die dabei schon auf der Plattform gelandet sind. Der Konzern muss solche Inhalte entfernen, ob wegen Gesetzen oder aus geschäftlichem Eigeninteresse. Alleine im ersten Halbjahr 2024 wurden laut Tik Tok fast eine halbe Million Accounts gesperrt, die Darstellungen sexualisierter Gewalt an Minderjährigen verbreitet hätten. Dazu reicht es nicht, sich auf Nutzermeldungen zu verlassen. Videos müssen gesichtet, bewertet, gesperrt werden.

Eine Qualitätsanalystin bei Tik Tok, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, berichtet gegenüber jW von den Arbeitsbedingungen. Sie ist dafür zuständig, einen automatisiert ausgewählten Teil der von den Moderatoren getroffenen Entscheidungen zu überprüfen. Auf den Tischen landeten Hunderte bis Tausende Beiträge täglich, erzählt sie. Theoretisch gebe es das Angebot, regelmäßig mit einem Therapeuten zu sprechen. Verpflichtend sei das aber nicht, was in der Praxis zu Druck führe, sie auch nicht wahrzunehmen, um Bearbeitungsquoten zu erfüllen. So müsse eine einstündige Extrapause vom Bildschirm pro Woche genügen.

»Die Abhängigkeit ist groß, die Leute haben Angst«, sagt sie mit Blick auf die vielen Beschäftigten aus dem Ausland. Wissen über das deutsche Arbeitsrecht hätten sie sich erst aneignen müssen: »Wir mussten mit Kollegen Gespräche führen und erklären, dass der Staat ihnen nicht das Visum wegnehmen kann, nur weil sie in der Gewerkschaft sind.« Diese Verunsicherung sei aber auch das Kalkül der Techunternehmen bei der Anwerbung migrantischer Arbeiter. Bei dem Arbeitskampf vor Ort gehe es zudem nicht nur um ihren eigenen Job. In Outsourcingbetrieben, von denen viele außerhalb Europas liegen, sei es oft noch viel schlimmer.

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