Ein Attentat wie gerufen
Von Lars Pieck
Für die Herrschenden in Washington ist schon vor Beginn von Ermittlungen klar, dass es sich um die Tat von »gestörten radikalen Linken« (US-Präsident Donald Trump) bzw. »gewalttätigen Linksextremisten« (Vize J. D. Vance) handelt. Am Mittwoch morgen hatte ein Bewaffneter von einem nahegelegenen Dach aus das Feuer auf eine Außenstelle der US-Einwanderungs- und Zollbehörde (ICE) in Dallas eröffnet. Er habe »wahllos« Schüsse auf den ummauerten Innenhof abgegeben, einschließlich eines Lieferwagens im gesicherten Eingangsbereich, wo die Opfer unter Beschuss gerieten. Eines von ihnen wurde dabei getötet, zwei weitere wurden schwer verletzt. Aus Mexiko kam die Bestätigung, dass es sich bei einem der Verletzten um einen mexikanischen Staatsbürger handele. ICE-Beamte blieben unverletzt, der mutmaßliche Täter starb laut offiziellen Angaben infolge einer selbst zugefügten Schusswunde.
Heimatschutzministerin Kristi Noem ordnete nach dem Angriff landesweit verstärkte Sicherheitsmaßnahmen in ICE-Einrichtungen an. Sie erklärte später in einem Interview mit Fox News, dass bisherige Erkenntnisse darauf hindeuteten, dass der Schütze »auf die ICE abgezielt habe«. FBI-Direktor Kash Patel veröffentlichte auf X ein Foto unbenutzter Munition des Verdächtigen. Auf der Hülse einer Patrone war »ANTI-ICE« eingraviert. Patel schrieb, erste Auswertungen deuteten auf ein ideologisches Motiv hin.
Der Verdächtige wurde von Strafverfolgungsbehörden als der 29jährige Joshua Jahn identifiziert. Gerichtsakten zeigen, dass Jahn 2015 wegen der Lieferung von Marihuana verhaftet wurde. Laut Wählerunterlagen ist er als Unabhängiger registriert und hatte seine Stimme 2024 abgegeben. Jahn arbeitete zuletzt bei einem texanischen Solarunternehmen und zuvor unter anderem auf einer legalen Cannabisfarm in Washington. Während dieser Zeit habe er in seinem Auto gelebt, berichtete Farmeigentümer Ryan Sanderson. Er beschrieb Jahn als orientierungslos: »Er schien wirklich keine Richtung zu haben, da er in so jungen Jahren in seinem Auto lebte.« Sein Bruder Noah, der wie Jahn nördlich von Dallas in McKinney lebt, gab gegenüber Reuters zu Protokoll: »Ich glaube nicht, dass er politische Absichten hatte.« Auf die Frage, ob sein Bruder über Widerstand gegen die ICE gesprochen habe, antwortete er: »Nein, nicht gegen die Strafverfolgungsbehörden.«
Mitglieder der Trump-Administration veröffentlichten allerdings schnell Statements, die das Attentat als Angriff auf die Migrationsbehörde darstellten. So forderte Vance, dass »die obsessive Attacke auf die Strafverfolgungsbehörden, insbesondere die ICE, aufhören muss«. Texas’ Senator Ted Cruz forderte ein Ende »hetzerischer Rhetorik« gegen deren Mitarbeiter. Noem erklärte: »Diese Schüsse müssen der extremen Linken ein Weckruf sein, dass ihre Rhetorik über ICE Konsequenzen hat.« Auf seiner Plattform »Truth Social« beschuldigte Trump »radikale linke Demokraten«, die Gewalt gegen ICE anzustacheln, indem sie »die Strafverfolgungsbehörden ständig dämonisieren, die Abschaffung der ICE fordern und ICE-Beamte mit Nazis vergleichen«. Unter Berufung auf die kürzliche Ermordung des rechtsklerikalen Aktivisten Charlie Kirk behauptete Trump, dass »radikale linke Terroristen« eine »ernsthafte Bedrohung« für die Strafverfolgungsbehörden darstellten und »gestoppt werden müssen«. Er kündigte an, ein Dekret zu unterzeichnen, um »Netzwerke des inländischen Terrorismus zu zerschlagen«.
Von seiten der Demokraten kam der Vorwurf, dass Informationen selektiv veröffentlicht würden und die Berichterstattung kontrolliert würde, um ein bestimmtes Narrativ zu stützen. Der Abgeordnete Marc Veasey kritisierte, dass sich die Behörden bei einer frühen Pressekonferenz geweigert hatten, Auskunft darüber zu geben, ob unter den Opfern auch Häftlinge waren, und er warf ihnen vor, Migranten als Betroffene in den Hintergrund zu drängen. Hervorzuheben ist zudem, dass der auf der Patrone gefundene Spruch nicht dem Sprachgebrauch linker Aktivisten entspricht – gängig sind bei ihnen eher Formulierungen wie »Fuck ICE« oder »Abolish ICE«. Zudem scheint das FBI unter Direktor Patel bei medienwirksamen Ermittlungen häufiger Texte auf Patronen zu finden, die das von der Regierung vorgegebene Narrativ bestätigen. Ob dies Zufall, Nachahmung des Verdächtigen oder amateurhafte Fälschung ist, bleibt abzuwarten.
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