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Aus: Ausgabe vom 26.09.2025, Seite 5 / Inland
Konjunktur, Inflation, Sozialabbau

Wohlstand für die Wenigsten

Über sechs Prozent Kaufkraftverlust in vier Jahren Inflation. Sozialabbaudebatte geht weiter
Von Ralf Wurzbacher
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»Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse«, bekannte jüngst der Bundeskanzler. Für Leute seines Kalibers mag das gelten

Das Handelsblatt hat ein Herz für Gepeinigte. »Bin ich reich oder nicht?« Die Antwort liefert ein durch die Redaktion entwickelter »Rechner« auf Basis von Daten der Deutschen Bundesbank. Wer also rätselt, ob sich mit einem dicken BMW schon gegen die Quandt-Familie anstinken lässt, findet hier Aufklärung. Beträchtliche Teile der Bevölkerung plagen andere Sorgen, zum Beispiel der Umstand, dass ihr weniges Geld immer weniger geworden ist. Nach am Donnerstag bekanntgewordenen Zahlen des Statistischen Bundesamts stiegen die Nettohaushaltseinkommen zwischen 2021 und 2024 um 9,5 Prozent. Allerdings lag die Inflationsrate in der Summe der Jahre bei 15,7 Prozent. Über sechs Prozent Kaufkraft gingen verloren. Die Sonderauswertung hat das BSW beauftragt. »Die Deutschen sind nicht nur ein bisschen ärmer geworden, sondern haben deutlich an Wohlstand verloren«, zitierte dpa Parteichefin Sahra Wagenknecht.

Man kann aus den Daten auch eine »Erholung« herauslesen, von wegen, wird schon alles wieder. Tatsächlich ist die Abwertungsdynamik seit der Rekordteuerung in den Jahren 2022 und 2023 inzwischen rückläufig. Aber die nächsten Zumutungen stehen bevor: höhere Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung, Mehrkosten fürs Heizen, fürs Deutschlandticket, fürs Wohnen sowieso. Trotzdem poltert Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) zu jeder Gelegenheit: »Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse.« Angesichts der Lage sei das »eine echte Unverschämtheit«, befand Wagenknecht und warnte davor, den Leuten »noch tiefer« ins Portemonnaie zu greifen. Davon ist auszugehen bei einer Regierung, die Hunderte Milliarden Euro für Rüstung mit einem »Herbst der Reformen« erwirtschaften will.

Für den trommeln auch die »führenden« Wirtschaftsinstitute. Ihr am Donnerstag präsentiertes Herbstgutachten sagt fürs laufende Jahr ein Wachstum von dürftigen 0,2 Prozent voraus. Dafür sollen es 2026 und 2027 immerhin 1,3 und 1,4 Prozent sein. Aber auch das ist nach Darstellung von Geraldine Dany-Knedlik vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) »wegen anhaltender struktureller Schwächen« nichts von Dauer. Schuld seien hohe Energie- und Lohnstückkosten, Fachkräftemangel, schwindende Wettbewerbsfähigkeit und die vermeintlich hohe Staatsquote.

Bei ähnlicher Konjunkturprognose für dieses und das kommende Jahr sieht das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) den Staat nicht beim Kürzen, sondern bei den Investitionen am Zug. Bund, Länder und Kommunen sollten dies »konsequent priorisieren und Genehmigungsverfahren beschleunigen«, äußerte sich am Donnerstag IMK-Direktor Sebastian Dullien. Für falsch hält er es hingegen, die leichte Stimmungsaufhellung bei den Verbrauchern wieder abzuwürgen. »Unnötig zugespitzte Debatten über Kürzungen, etwa bei der sozialen Sicherung, schädigen dieses Vertrauen.« Gemäß dem am Donnerstag veröffentlichten »Konsumklimabarometer« der GfK-Marktforscher und des Nürnberg Instituts für Marktentscheidungen (NIM) sollen die Menschen nach monatelangem Abwärtstrend wieder mehr Kauflaune verspüren. Der Wert stieg um 1,2 Punkte auf minus 22,3. Durchgreifend optimistisch geht anders, weshalb auch NIM-Experte Rolf Bürkl beschied: »Ob dies den Beginn einer nachhaltigen Trendwende markiert, ist mehr als ungewiss.«

Echter Boom herrscht derzeit nur bei den Attacken gegen das Bürgergeld. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung (SZ) vom Donnerstag beschwor der frühere Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele (SPD), ein »immer größeres Geschäftsmodell«, den Sozialmissbrauch. Man müsse den Erwerbstätigkeitsbegriff so sicher machen, »dass man nicht mit fiktiven Beschäftigungsbescheinigungen ganze Bedarfsgemeinschaften finanzieren kann«. Als BA-Chef hatte Scheele einen Lohn von schätzungsweise 270.000 Euro jährlich. 2021 entgegnete er Forderungen nach einer Hartz-IV-Erhöhung mit den Worten: »Ich bezweifle, dass jemand mit 600 Euro deutlich zufriedener wäre.«

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