Den Knoten lösen
Von Wolfgang Nierlin
»Die Zukunft gehört allen« steht in großen Lettern auf dem Banner, das von einem Kleinflugzeug durch die tiefhängenden Wolken der Abenddämmerung über dem brasilianischen Amazonas gezogen wird. »Unser Land fliegt Richtung Zukunft« lautet entsprechend der optimistische Slogan der Regierung dazu. Es sei in diesem Sinne außerdem »patriotische Pflicht«, ältere Mitbürger zu würdigen, da diese während vieler Jahre ihres Lebens dem Land gedient und es aufgebaut hätten. Und so wird am ironischen Beginn von Gabriel Mascaros leicht dystopischem Film »Das tiefste Blau« (»O último azul«) die 77jährige Tereza (Denise Weinberg) für ihre Lebensleistung mit einem überdimensionierten Ehrenlorbeer an der Außenwand ihrer bescheidenen Holzhütte und einer Medaille ausgezeichnet. »Ab jetzt sind Sie lebendes Nationalerbe«, sagt die Beauftragte der Regierung. Doch die noch vitale Tereza, die allein lebt und sich selbst versorgt, fühlt sich weder alt noch gebrechlich. Und deshalb will sie auch nicht ihren Job in einer Krokodilschlachterei aufgeben.
»Haben Sie keine Träume?« fragt der Personalchef des Betriebs, der die sichtlich irritierte und enttäuschte Mittsiebzigerin kurz darauf entlässt. Die angeblich fortschrittliche Ideologie des lateinamerikanischen Landes sieht nämlich vor, für die Produktionssteigerung auf junge Menschen zu setzen und die mehr oder weniger hinderlichen Alten in eine Seniorenkolonie abzuschieben beziehungsweise auf eine vermeintlich »sanfte Art« zu internieren. Mit sogenannten »Altenabschleppern« werden die betagten Mitbürgerinnen von der Polizei dorthin verfrachtet. Doch Tereza widersetzt sich. Sie hat noch Pläne und hegt vor allem den Wunsch, einmal in ihrem Leben zu fliegen.
Und so begibt sie sich auf eine abenteuerliche Flucht durch das Amazonasgebiet, wobei ihr Weg vor allem dem breiten Urwaldstrom folgt. Zunächst vertraut sie sich dem unglücklichen, an Liebeskummer leidenden Schiffer Cadu (Rodrigo Santoro) an, der mit illegaler Fracht unterwegs ist und sie in die Geheimnisse der magischen blauen Schnecke einweiht. Dann trifft sie auf den spielsüchtigen Flieger Ludemir (Adanilo), der es jedoch nur auf ihr Geld abgesehen hat; bis sie schließlich in der alten, freiheitstrunkenen Bibelverkäuferin Roberta (Miriam Socarrás) eine gleichgesinnte Freundin findet.
Lustvoll und spielerisch verbindet der brasilianische Regisseur Gabriel Mascaro in seinem preisgekrönten Film »Das tiefste Blau« unterschiedliche Genres und Stimmungen. So finden sich in seinem Roadmovie zu Wasser ebenso Motive des dystopischen und phantastischen Films wie des politischen und nicht zuletzt und paradoxerweise des Coming-of-Age-Films. Denn im Verlauf ihres Unterwegsseins macht die Heldin neue Erfahrungen, sie lernt dazu, gewinnt neuen Mut und gibt ihrem Leben schließlich eine andere Richtung. Sein ruhig erzählter, mit stimmungsvollen Bildern und einer leichtfüßigen Musik aufwartender Film sei eine »Ode an die Freiheit«, hat Mascaro erläutert, sowie ein Plädoyer für das Recht, auch noch im fortgeschrittenen Alter seine Träume zu leben. Und wie sagt doch einmal die erfahrene Bootslenkerin Roberta zu Tereza: Wichtiger als Knoten zu machen sei es, diese wieder zu lösen.
»Das tiefste Blau«, Regie: Brasilien 2025, 87 Min., Kinostart: heute
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