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Aus: Ausgabe vom 24.09.2025, Seite 12 / Thema
Philippinen

Herrschaft der Schlechtesten

Philippinen: Kein anderer Familienclan hat das politische Geschehen seit 1965 in dem südostasiatischen Inselstaat dermaßen tiefgreifend beherrscht wie die Marcoses. Ein kritischer Rückblick
Von Rainer Werning
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»Wir strengen uns an beim Studieren. Ihr strengt euch beim Klauen noch mehr an!« Bei den Protesten gegen Korruption und Unterschlagung gingen am vergangenen Wochenende Zehntausende auf die Straße (Mandaluyong, 21.9.2025)

Seit der Unabhängigkeit der Republik der Philippinen am 4. Juli 1946 bildeten die Liberal Party und die Nacionalista Party die Hauptkräfte im politischen Spektrum des Landes, deren Spitzenkandidaten alternierend in den Malacañang-Palast zu Manila einzogen. Ferdinand E. Marcos, von Haus aus Jurist, war langjähriges Mitglied der Liberalen, bis er, für damalige Verhältnisse wenig aufsehenerregend, ins Lager der oppositionellen Nationalisten überwechselte und als deren Präsidentschaftskandidat 1965 gegen seinen Widersacher Diosdado Macapagal das Rennen machte. Lange Zeit amtierte er unangefochten, bis er im Februar 1986 aus dem Amt gejagt und ins Exil auf Hawaii verfrachtet wurde. Doch 16 Jahre später avancierte mit Ferdinand »Bongbong« Marcos Junior, sein Sohn, zum neuen Staatschef, dessen Amtszeit offiziell im Sommer 2028 endet.

Entwicklung um jeden Preis

Als Marcos Senior Ende 1965 seinen Amtseid ablegte, versprach er, das Land durch grundlegende Reformen so zu gestalten, dass ihm der Anschluss an die wirtschaftlich erfolgreichen »Tigerökonomien« Südkorea, Singapur und Taiwan gelingen würde. Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, bedurfte es zumindest einer Zentralisierung und Konzentration staatlicher Instanzen. Auffällig war in diesem Zusammenhang das Entstehen wirtschaftlicher Planungsbehörden, die Straffung administrativer Befugnisse sowie eine gezielte Ausweitung von Militär und Polizei. Personell bestückt wurden all diese Institutionen und Organisationen mit einer dem Präsidenten ergebenen politischen Klientel und vor allem durch das verstärkte Einbinden von Finanz- und Wirtschaftsexperten, die an US-amerikanischen Eliteuniversitäten ausgebildet worden waren.

Der Vorteil, eine solche kosmopolitisch orientierte, dynamisch technokratische Elite an die Exekutive zu binden, bestand darin, dass sie sich selbst als überparteilich und »unpolitisch« begriff. Sie verfügte über keine eigene Massenbasis und hegte keine eigenen politischen Ambitionen – ja wertete ganz im Sinne ihrer akademischen Leitbilder aus den US-amerikanischen und europäischen politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten (partei)politische Aktivitäten als »unnützen Ballast«, als »Politikasterei«. Ihre Ideologie bestand darin, einzig einem »developmentalism« verpflichtet zu sein, wonach Entwicklung um jeden Preis als höchster Gradmesser galt.

Eingebettet war all das in eine präsidiale Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik, die ausländischem Kapital lukrative Anlagemöglichkeiten in Aussicht stellte und unerschütterlich an der Allianz mit den USA festhielt, die die Inseln von 1898 bis 1946 als einzige US-Kolonie in der Region Südost- und Ostasien beherrscht hatten. Aus Washingtons Sicht war Manila das »Bollwerk des Antikommunismus« in der Region, wo bereits 1954 mit der SEATO das fernöstliche Pendant zur NATO aus der Taufe gehoben worden war. Es verstand sich von selbst, dass mit den damals beiden größten außerhalb des nordamerikanischen Kontinents gelegenen US-Militärstützpunkten Subic Naval Base und Clark Air Field zwei geostrategisch bedeutsame vorgeschobene (Nachschub-)Basen während des Vietnamkrieges existierten.

Scharfen politischen Gegenwind verspürte das Marcos-Regime seitens der parlamentarischen Opposition und in wachsendem Maße seitens eines breiten Bündnisses aus (Transport-)Arbeitern, Studenten und (Klein-)Bauern, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sich unter Marcos spürbar verschlechtert hatten. Mehr noch: Seit Ende der 1960er Jahre entstanden mit der Moro Nationalen Befreiungsfront (MNLF) im Süden des Archipels sowie mit der Kommunistischen Partei (CPP) und ihrer Guerillaorganisation Neue Volksarmee (NPA) zwei bewaffnete Formationen, die für Unabhängigkeit beziehungsweise einen Regimewechsel kämpften – und das nach Marcos’ von »schmutzigen« Methoden begleiteter Wiederwahl im Jahre 1969 mit spürbarem Erfolg.

Die Proklamation Nr. 1081, mit der Marcos am 21. September 1972 landesweit das Kriegsrecht verhängte, markierte den aus Manilas Sicht erfolgreichen Prozess der Zentralisierung und Konzentration staatlicher Herrschaft. Die skizzierten Strukturmerkmale des neuen Entwicklungsmodells bedurften fortan lediglich der »Panzerung« und Anwendung gegen ein wachsendes Potential seiner Gegner und Kritiker. Der von Marcos vorgeschobene Grund – Zurückschlagen des Staates gegen eine von »rechten Oligarchen«, »linken Verschwörern« und »sezessionistischen Moslems im Süden« orchestrierte »Subversion« – war fadenscheinig und zielte auf die Ausschaltung seines schärfsten politischen Rivalen in Gestalt von Benigno Aquino.

»Eine Nation – ein Geist«

Der seit Herbst 1972 propagierte Regimeslogan Isang Bansa – Isang Diwa (»Eine Nation – ein Geist«) reflektierte die philippinische Variante jener Vorstellungen, die Brasiliens Sicherheitsideologe, General Golbery de Couto e Silva, einst so formuliert hatte: »Die Nation ist absolut, oder sie ist nichts. Eine Nation kann keinerlei Begrenzung ihrer absoluten Macht dulden.« Erklärtes Ziel von Marcos war es, mit dem Kriegsrecht einer »Neuen Gesellschaft« den Weg zu ebnen. Wer Dissens und Widerstand wagte, wurde unerbittlich verfolgt.

Marcos war verschlagen genug, das Kriegsrecht angesichts des bevorstehenden Besuchs von Papst Johannes Paul II. im Januar 1981 in dem vorwiegend römisch-katholischen Land de jure aufzuheben. Doch de facto dauerte es bis zum Frühjahr 1986 an – gestützt auf zahlreiche repressive Präsidialdekrete.

Der um die Jahreswende 1968/69 auf maoistischer Grundlage formierten CPP/NPA sowie ihres im Frühjahr 1973 entstandenen politischen Bündnisses in Gestalt der Nationalen Demokratischen Front der Philippinen (NDFP) war es zwischenzeitlich gelungen, ihre Operationsbasis auf die mittlere Visaya-Inselgruppe und nach Mindanao auszuweiten. Der von ausländischer Unterstützung abgeschnittenen Guerilla gelangen aufgrund einer geschickten Verknüpfung von bewaffnetem Kampf und politischer Massenarbeit in den Städten Einbrüche bis tief ins bürgerliche Lager hinein. Außerdem waren die neben dem Staatsapparat einzig intakt gebliebenen Institutionen, die Kirchen, deren unterer Klerus sich gleichsam Mitte der 1970er Jahre auf oppositionelle Positionen begeben hatte, und kirchlich unterhaltene soziale Aktionszentren wiederholt zur Zielscheibe des Regimeterrors geworden.

Sosehr Protest wie legaler und illegaler Widerstand wuchsen, sowenig war die Militärspitze unter General Fabian C. Ver der »Aufgabe« gewachsen, der Guerilla das Rückgrat zu brechen. Für das Militär bereitgestellte Gelder versickerten in den Taschen korrupter Funktionäre und Beamter. Das politische System und die Militärs erwiesen sich in dem Augenblick als dysfunktional, als ihr Profil und die Legitimation staatlicher Herrschaft dringender denn je vonnöten waren. Mit der kaltblütigen Ermordung des nach dreijährigem Selbstexil in den USA zurückgekehrten Exsenators Benigno Aquino auf dem Flughafen von Manila (21. August 1983) spitzte sich diese Situation dramatisch zu.

Aquino war die Galionsfigur des auf einen friedlichen Wandel spekulierenden Bürgertums und beabsichtigte, gemeinsam mit dem Erzbischof von Manila, Kardinal Jaime Sin, gegenüber dem Präsidenten einen nationalen Aus- und Versöhnungskurs ins Spiel zu bringen. Seine Liquidierung brachte die Protestspirale in Bewegung und dem Bürgertum schlagartig die Menschenrechtsfrage näher. Hatte dieses mehrheitlich zu dem alltäglichen Staatsterror gegen Bauern und ethnische Minderheiten geschwiegen, so propagierte es jetzt die Beseitigung der Marcos-Diktatur und machte sich partiell selbst die weitergehende Losung vom »Sturz der US-Marcos-Diktatur« zu eigen.

Nach dem Aquino-Mord setzte seitens Washingtons ein intensives Krisenmanagement ein, um die tiefe wirtschaftspolitische und Legitimationskrise des Marcos-Regimes einzudämmen. Dieses zeichnete sich dadurch aus, dass man in Washington nun nicht mehr einem Despoten seiner Couleur bis zur bitteren Neige die Stange hielt, sondern sich von ihm schrittweise distanzierte. Strategisch war Marcos abgeschrieben und nur noch aufgrund einer ihm aufgedrängten vorgezogenen Präsidentschaftswahl taktisch haltbar. Im Interesse einer Nachfolgeregelung erwünscht war eine Allianz reformwilliger Militärs um Generalleutnant Fidel V. Ramos mit gemäßigten bürgerlichen Politikern um Salvador H. Laurel. Kein Wunder, dass Stephen Bosworth, Washingtons Botschafter in Manila, mehrmals mit eben diesen beiden Personen konferierte.

Manilas umtriebiger Erzbischof, Kardinal Jaime Sin, tat sein Übriges und warf sein politisches Gewicht für die Witwe des ermordeten Aquino, Corazon C. Aquino, in die Waagschale, was Washington in letzter Minute guthieß. In dieser höchst willkommenen personalen Alternative verbanden sich gewiefte Politik (Laurel) mit Integrität und Moral (Aquino), was angesichts des isolierten und verhassten Regimes positiv zu Buche schlug. Das ließ sich auch medial gut in Szene setzen – hier die Lichtgestalt und Hoffnungsträgerin Aquino, dort der in Ungnade gefallene, verruchte Finsterling Marcos. Diese Anti-Marcos-Konstellation bot zudem die Gewähr dafür, dass die amerikanischen Machtprärogativen unangetastet blieben.

Die politisch turbulenten vier Tage vom 22. bis zum 25. Februar 1986 – überschwänglich als People-Power- oder Rosenkranz-Revolution gepriesen, da weit über eine Million Menschen gegen das Regime aufbegehrten und sich friedlich auf Manilas Stadtautobahn zu Protesten versammelten – brachten die Fundamente der Marcos-Herrschaft zum Einsturz. Die Marcos-Familie samt einer handverlesenen Entourage engster Freunde wurde buchstäblich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion von der US-Luftwaffe zuerst zur Clark Air Base nördlich von Manila und von dort aus weiter nach Hawaii ins Exil ausgeflogen.

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Die drei Hauptinseln der Philippinen

Machtrochade

Schneller als erwartet entpuppte sich die Nachfolgerin des Despoten als schwache Führungskraft. Die Zeit ihrer sechsjährigen Präsidentschaft wurde im wesentlichen von Militärs (namentlich Fidel Ramos) sowie konservativen und reaktionären Kräften geprägt. Kein Wunder, dass Marcos’ langjähriger Ko-Kriegsrechtsverwalter, der Polizeichef und politische Wendehals Ramos, von 1992 bis 1998 selbst das oberste Staatsamt bekleidete. Pikanterweise war das eine Periode, die womöglich als die vergleichsweise politisch ruhigste und wirtschaftlich prosperierendste Phase in die jüngere Geschichte des Inselstaates eingehen wird. Es folgten allesamt Präsidenten, von denen keiner auch nur ansatzweise erkennen ließ, die großen und hehren Versprechungen im Zuge des Marcos-Sturzes in die Tat umzusetzen.

Frustration und Zynismus waren weit verbreitet und bildeten den politischen Nährboden für Rodrigo R. Duterte, der als 16. Präsident der Philippinen von 2016 bis 2022 die Geschicke des Landes lenkte. Mit brachialer Gewalt: Etwa 30.000 Menschen fielen allein seinem »Antidrogenkrieg« zum Opfer. Weshalb Duterte seit diesem Frühjahr wegen Verbrechen gegen die Menschheit im Gefängnis des Internationalen Strafgerichtshofs im niederländischen Den Haag einsitzt.

Derweil nutzten die Marcoses ihre Zeit im hawaiianischen Exil, um eine wohlorchestrierte Rückkehr in ihre Heimat zu planen – und konnten dabei das kurze Gedächtnis ihrer Landsleute fest ins Kalkül einbeziehen. 2016 ging es kometenhaft aufwärts, als »Bongbong« Marcos auf der Welle von Fake News und Geschichtsrevisionismus fast die Vizepräsidentschaft gewann. Der Durch- und Neuaufbruch erfolgte schließlich sechs Jahre später, als Marcos Junior die letzte Präsidentschaftswahl im Verein mit Sara Duterte, der Tochter des just aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Rodrigo R. Duterte, haushoch gewann. Beide firmierten damals unter dem Banner eines Einheitsteams (»Unity Team« oder auch kurz »Uni Team« genannt). Zwar entstammten beide Kandidaten unterschiedlichen politischen Parteien, doch tunlichst geeint waren sie im Sinne einer auf Gegenseitigkeit basierenden Familienfreundschaft.

Zumindest bis zum Herbst 2023 schien alles darauf hinzudeuten, dass das Marcos-Duterte-Tandem alles in seinen Kräften Stehende in Bewegung setzt, um nach Ablauf der sechsjährigen Amtszeit des Präsidenten (laut Verfassung ist dessen Wiederwahl nicht möglich) im Jahre 2028 die reibungslose Inthronisierung von Vizepräsidentin Sara Duterte als neue Staatschefin zu garantieren.

Zerwürfnis und Feindschaft

Doch die Dinge nahmen eine unverhoffte Wende, als die Vizepräsidentin und Duterte-Tochter im letzten Quartal 2023 unter Beschuss geriet, öffentliche Gelder veruntreut und maßlose Summen für den Unterhalt ihres Büros sowie vertrauliche Gelder für die eigene Sicherheit ausgegeben zu haben. Im Rahmen von Budgetdebatten stellte sich unter anderem heraus, dass Duterte allein Ende des Jahres 2022 in nur elf Tagen 125 Millionen Peso (umgerechnet etwa zwei Millionen Euro) ausgegeben hatte, ohne deren Verwendung sach- und fachgerecht auszuweisen. Während die Vizepräsidentin eine politische Intrige vermutete, ging ihr Vater so weit, Marcos Jr. wiederholt als »verzogenen Sohn«, »Taugenichts« und »Kokser« abzustempeln, und erwog zum Jahresbeginn 2024 sogar, sich für »die Sezession der Hauptinsel Mindanao« starkzumachen. Als Sara Duterte sodann auch noch unter Beschuss geriet, in ihrer gleichzeitigen Eigenschaft als Bildungsministerin ebenfalls in finanzielle Unregelmäßigkeiten während ihrer Amtszeit verstrickt gewesen zu sein, brachte dies das Fass zum Überlaufen.

Zahlreichen Anhörungen vor Untersuchungsausschüssen des Kongresses folgte schließlich ein gegen die Vizepräsidentin eingeleitetes Amtsenthebungsverfahren. Doch der Senat, der darüber letztinstanzlich befinden sollte, verweigerte dessen Annahme mit Verweis auf angebliche »Formfehler«. Kompliziert wurde das juristische Tauziehen durch die im Mai dieses Jahres abgehaltenen Halbzeitwahlen, aus denen weder das herrschende Marcos-Lager noch das Duterte-Camp als Sieger hervorging. Begleitet wurde diese Pattsituation von einer eskalierenden Fehde zwischen dem höchsten Staatsträger und seiner Stellvertreterin, die seit Anfang August dramatische Ausmaße angenommen hat und zu Umbesetzungen an der Spitze des Repräsentantenhauses und Senats führte.

Das seitdem alles beherrschende Thema philippinischer Tagespolitik bilden Korruptionsskandale gigantischen Ausmaßes. Vordergründig geht es dabei um die systematische Veruntreuung und Plünderung von Geldern in Milliardenhöhe, die eigentlich unter der Regie des zuständigen Ministeriums für öffentliche Arbeiten und Straßenbau für den Katastrophenschutz bestimmt waren. Am vergangenen Wochenende kam es deshalb landesweit zu den größten Protestmärschen und Demonstrationen seit Jahren. Politische Analysten und Medienvertreter prägten in diesem Zusammenhang ein Wort, das bis dato unbekannt war: Kakistokratie, die Herrschaft der Schlimmsten beziehungsweise der Schlechtesten.

Von Marcos zu Marcos – wie war das möglich?

Carol Pagaduan-Araullo, langjährige ­Vorsitzende des 1985 auf dem Höhepunkt der Opposition gegen das Marcos-Regime entstandenen breiten Linksbündnisses Bagong Alyansang Makabayan (Neue ­Patriotische Allianz/Bayan), antwortete im Gespräch mit Rainer Werning Mitte ­Februar 2025 auf die Frage:

Wie erklären Sie sich, dass einem Marcos Senior 2022 ein Marcos Junior als Präsident nachfolgen konnte, obwohl sich dies vor einigen Jahren kaum jemand in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte?

Ich führe dies auf mehrere Faktoren zurück. Einer ist der systemische Hintergrund des Marcos-Comebacks – nämlich die ausgeprägte Tendenz der unterschiedlichen Fraktionen und Persönlichkeiten innerhalb der herrschenden Eliten, irgendwann zu einem Modus Vivendi zu kommen, sobald ihre eigennützigen Interessen nicht mehr akut im Widerspruch zueinander stehen. Das heißt, sie haben mehr Gemeinsamkeiten in ihrem strategischen Interesse, den Status quo zu erhalten und ihre Privilegien gegen die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen zu verteidigen. Außerdem verfolgen die Eliten zahlreiche ineinandergreifende und sich überlappende wirtschaftliche und politische Interessen und verfügen über entsprechende Möglichkeiten, zu einer für beide Seiten vorteilhaften Übereinkunft zu kommen.

Dies erklärt, warum es den Marcoses überhaupt gestattet wurde, in die Philippinen zurückzukehren, obwohl sie einen Großteil ihrer Beute behalten hatten. Sie kamen ungeschoren davon, konsolidierten erneut ihre Machtpositionen und schafften es recht mühelos, erneut in Regierungsämter gewählt zu werden – zunächst auf lokaler, dann auf regionaler sowie nationaler Ebene. Die anderen Fraktionen waren derweil zu sehr mit der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen beschäftigt oder schauten einfach weg.

Die Marcoses nutzten ihren geraubten Reichtum auch, um eine langfristige Kampagne der Desinformation, Geschichtsfälschung und allgemeinen Beschönigung ihres schrecklichen Erbes durchzuführen. Die Nutzung sozialer Medien zu diesem Zweck verlief systematisch, einschließlich des Anheuerns und hoher Dotierung von Experten ausländischer Firmen, die für solche spezialisierten Operationen berüchtigt sind.

Die Nach-Marcos-Regime waren nicht im geringsten an einer systematischen politischen Bildung und Aufklärung in Bezug auf die Übel des Marcos-Regimes interessiert. Sie gaben sich damit zufrieden, dass die Marcos-Dynastie einen schweren Rückschlag erlitten hatte und einige ihrer Mitglieder für kurze Zeit sozial geächtet wurden. Die den Marcos feindlichen Fraktionen der Elite, wie die Aquinos und die Liberale Partei, versuchten nicht einmal ansatzweise, die politischen Institutionen und die politische Kultur grundlegend umzukrempeln, um jedwedem Autoritarismus den Nährboden zu entziehen. Warum? Weil sie selbst zur Elite gehörten und es keineswegs in ihrem Interesse lag, die Wurzeln der sozialen Krise, die zur 14jährigen Tyrannei von Marcos Sr. geführt hatten, offenzulegen. Für die Mehrheit der Filipinos hat sich trotz des Sturzes von Marcos Sr. nichts grundlegend geändert. Die Verelendung der Armen hat sich verschärft; die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich vergrößert; Korruption, Machtmissbrauch und schlechte Regierungsführung sind wie eh und je an der Tagesordnung.

Schließlich trägt die fortschrittliche Bewegung oder die Linke im Allgemeinen eine gewisse Mitschuld daran, dass es nicht gelungen ist, eine energische und umfassende Propaganda- und Kulturbewegung voranzutreiben und jene Elemente der Volksbewegung zu wahren, die zum Sturz der US-Marcos-Diktatur beitrugen.

Rainer Werning ist Sozialwissenschaftler und Publizist mit den Schwerpunkten Südost- und Ostasien und befasst sich seit 1970 intensiv mit den Philippinen. Er ist u. a. Koherausgeber des soeben im Wiener Promedia-Verlag erschienenen Buches »Von Marcos zu Marcos: Die Philippinen seit 1965«, das auch umfangreiches Quellenmaterial enthält.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (23. September 2025 um 23:03 Uhr)
    Frage an Rainer Werning: was ist unter »fortschrittliche Bewegung oder die Linke im Allgemeinen« zu verstehen? Z.B. Aquino oder die NDFP? Danke für eine Aufklärung.

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