Marokkos langer Arm
Von Gerrit Hoekman
Ein Gericht in Rotterdam will Yassine Mansouri, den Chef des marokkanischen Auslandsgeheimdienstes DGED, als Zeugen in einem Spionageprozess vorladen. Das Ansinnen sei »komplett aussichtslos«, ist sich der Marokko-Experte Paolo de Mas von der Universität Leiden laut NRC Handelsblad vom Mittwoch sicher. Mehr noch: Es könnte zu ernsten diplomatischen Spannungen mit Marokko führen.
Rückblick: Im Oktober 2023 verhaftete die Polizei am Amsterdamer Flughafen Schiphol Abderrahim El M., der auf dem Weg nach Marokko war. Bei ihm fanden die Beamten staatliche geheime Dokumente, die er als Mitarbeiter der niederländischen »Nationalen Koordination Terrorismusbekämpfung und Sicherheit« (NCTV) ausgedruckt hatte. In seinem Haus in Rotterdam wurden dann Hunderte Geheimdossiers entdeckt. Der in Marokko geborene Niederländer reiste regelmäßig in sein Geburtsland. Manchmal blieb er einige Wochen und arbeitete aus dem Homeoffice weiter für die NCTV, die dem Justiz- und Sicherheitsministerium untersteht. Innenpolitisch ist der Fall brisant, weil der parteilose niederländische Premierminister Dick Schoof von 2013 bis 2018 Chef der NCTV war. Auch er soll als Zeuge vernommen werden.
Über 30 Jahre lang war Abderrahim El M. ein geschätzter Beamter des niederländischen Justiz- und Sicherheitsministeriums. Nun beschuldigt ihn die Staatsanwaltschaft in Rotterdam, hochsensible Informationen an den marokkanischen DGED und seinen Chef Yassine Mansouri weitergegeben zu haben.
1989 saß der Angeklagte noch als linker Dissident in Marokko im Gefängnis. Danach ging er nach Europa und machte ab 2004 beim NCTV Karriere als führender Experte für islamistischen Extremismus. Viele Fanatiker verließen damals wegen staatlicher Repressionen Marokko in Richtung Europa oder schlossen sich Dschihadisten im Irak und in Syrien an. Der DGED behielt sie im Auge. »Es wurde deutlich, dass die marokkanische Regierung mehr Einblick in die Radikalisierung in den Niederlanden hatte als die Niederlande selbst«, so De Mas. Der ehemalige Dissident Abderrahim El M. und der marokkanische Staat hatten plötzlich – zumindest vorgeblich – dasselbe Ziel: Dschihadisten in Schach zu halten. Der Angeklagte, der nach 20 Monaten U-Haft seit Juli wieder auf freiem Fuß ist, weist den Geheimnisverrat von sich.
Dass Geheimdienstchef Mansouri als Zeuge aussagen wird, ist so gut wie ausgeschlossen. Wahrscheinlicher ist, dass die Beziehungen zu Rabat Schaden nehmen. Das wäre sicher nicht im Sinne Den Haags. So gibt es Vereinbarungen mit dem nordafrikanischen Land über die Abschiebung marokkanischer Staatsbürger.
Andererseits bezeichnet der niederländische Allgemeine Nachrichten- und Sicherheitsdienst (AIVD) in seinem Bericht 2024 Marokko als Land, das in den Niederlanden ansässige Landsleute beobachte und, wenn möglich, als Informanten einsetze, die politische Aktivisten auskundschaften und Wirtschaftsspionage betreiben. Mansouris Name taucht jedenfalls nicht zum ersten Mal im Zusammenhang mit europäischen Spionageskandalen auf. Laut der belgischen Staatsanwaltschaft sollen sich zum Beispiel EU-Abgeordnete mit ihm getroffen und Bestechungsgeld angenommen haben. Als Gegenleistung versuchten sie EU-Entscheidungen zugunsten Marokkos zu beeinflussen – siehe »Marokko-Gate«.
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