Gegründet 1947 Sa. / So., 08. / 9. November 2025, Nr. 260
Die junge Welt wird von 3063 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 23.09.2025, Seite 6 / Ausland
Nordirland-Konflikt

Bloody Sunday vor Gericht

Nordirland: Erstmals wird ein Soldat für die Repressionen in Derry zur Verantwortung gezogen
Von Dieter Reinisch
imago825801665.jpg
Mit ihren blutigen Repressionen brachte die britische Regierung die irischen Nationalisten vollends gegen sich auf (Derry, 30.1.1972)

Der sogenannte Blutsonntag in Derry am 30. Januar 1972 war ein Schlüsselereignis und Tiefpunkt im Nordirland-Konflikt. Nun steht der als »Soldat F.« bekannte vor Gericht, der am »Bloody Sunday« zwei friedliche Demonstranten erschossen haben soll. Der Prozess ist historisch: Es handelt sich um den ersten britischen Armeeangehörigen, der sich für die tödliche Repression verantworten muss, der 14 Menschen zum Opfer fielen – 13 weitere wurden schwer verletzt. Sein Fallschirmjägerregiment hatte auf fliehende Demonstranten gefeuert. Konkret ist F. wegen der Erschießung von William McKinney und James Wray sowie wegen versuchten Mordes in fünf weiteren Fällen – Patrick O’Donnell, Joseph Friel, Joe Mahon, Michael Quinn und einer unbekannten Person – angeklagt. Schon zuvor hatte sein Regiment am 9. und 11. August 1971 in Ballymurphy in Belfast elf Menschen getötet.

Der Prozess gegen »Soldat F.« begann Montag vergangener Woche in Belfast. Der Angeklagte verfolgt die Verhandlung hinter einem Vorhang in einer Ecke des Gerichtssaals, um nicht gesehen werden zu können. Im Prozess wurden in den ersten Tagen juristische Argumente darüber verhandelt, ob damalige Zeugenaussagen von Militärs als Beweismittel verwendet werden können. Der Anwalt des Angeklagten argumentierte, es bestehe eine »Wolke der Ungewissheit« hinsichtlich der Aussagen zweier Fallschirmjäger, die am »Blutsonntag« »Soldat F.« begleitet hatten. Denn die Staatsanwaltschaft möchte 53 Jahre alte Aussagen der Soldaten G. und H. verwenden, die ihrer Ansicht nach »entscheidende Beweise« darstellen. G. ist mittlerweile verstorben, H. nicht bereit, vor Gericht auszusagen.

Staatsanwalt Louis Mably betonte zu Prozessbeginn, die Ereignisse des »Blutsonntags« hätten »langanhaltende und tiefgreifende Auswirkungen« auf Nordirland gehabt. Er stellte jedoch klar, dass sich der Prozess »spezifisch und eng« auf die Schießereien in einem Innenhof in Glenfada Park North in Derry konzentrieren werde. »Diese Soldaten verloren die Kontrolle über sich«, sagte er und bezeichnete ihr Verhalten als »unprofessionell«, denn »auf Menschen zu schießen, die davonliefen, ist eine Tat, die der britischen Armee Schande bereitet«.

Zuvor hatte vor dem Gerichtsgebäude eine Kundgebung stattgefunden: John McKinney, ein Bruder von William, erklärte den Anwesenden, »Soldat F.« kauere »hinter einem Vorhang« und warte auf seinen Prozess wegen zweifachen Mordes und fünffachen versuchten Mordes. Der Prozessbeginn sei ein bedeutsamer Tag »in unserem Kampf um Gerechtigkeit für unsere Angehörigen, die am ›Blutsonntag‹ ermordet wurden«.

Die Entscheidung, gegen »Soldat F.« Anklage zu erheben, hatte die Staatsanwaltschaft 2019 getroffen. Er war einer von 18 ehemaligen Soldaten, die ihr im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung gemeldet worden waren, die auf die öffentliche Untersuchung des »Blutsonntags« durch Lord Mark Oliver Saville folgte. F. ist jedoch der einzige, gegen den bisher Anklage erhoben wurde. Neben ihm sollen die Soldaten E. und G. für die Ermordung weiterer Demonstranten verantwortlich sein. Sie beide sind bereits verstorben. Auch »Soldat F.«, von dem es keine verifizierten Bildaufnahmen gibt, ist in seinen 70ern. Daher wird der Prozess oft durch Erholungspausen für den Angeklagten unterbrochen. Untersuchungen laufen auch gegen Soldaten H. Laut Zeugenaussagen aus dem Jahr 1972 und späteren Befragungen kann ihm zwar keine direkte Verantwortung für die Morde gegeben werden. Aus seinem Magazin wurden aber mehrere Schüsse abgegeben. Die meisten Zeugen von damals sind allerdings nicht mehr am Leben.

Am Freitag, dem vierten Verhandlungstag, gab Richter Patrick Lynch bekannt, dass er seine Entscheidung über die Zulässigkeit von Aussagen aus dem Jahr 1972 an diesem Mittwoch verkünden werde. Entscheidet der Richter gegen die Verwendung der Aussagen, könnte die Anklage gegen F. zusammenbrechen und der Prozess rasch in einem Freispruch enden, befürchtete die Irish Times in ihrer Wochenendausgabe. Das Verfahren ist für acht Wochen anberaumt.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besondere Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Der »Blutsonntag« in Derry am 30. Januar 1972: 14 Personen wurde...
    25.03.2022

    Soldat F bleibt angeklagt

    »Blutsonntag« im nordirischen Derry: Hoffnung auf Verurteilung von britischem Fallschirmjäger
  • Angehörige und Freunde der Opfer des »Blutsonntags« von 1972 mar...
    15.03.2019

    Noch keine Gerechtigkeit

    Urteil in Nordirland: Nur ein britischer Exsoldat wegen Massaker vom »Blutsonntag« 1972 angeklagt

Regio: