»Sehr interessante Dinge«
Von Karl Wimmler
»Berühmte sind Leute, die man etwas später vergisst«, ätzte der Kirchenkritiker und Zyniker Karlheinz Deschner einmal und traf damit einen bedeutsamen Aspekt der medialen Aufgeregtheiten. Viele Stars ereilt dieses Schicksal lange bevor ihre Lebenszeit endet, bei wenigen erstreckt sich der Ruhm über den Tod hinaus, und nur die wenigsten bedeutenden Menschen sind nach Jahrzehnten noch bekannt. Dies trifft auch auf jene Menschen zu, die ihre Bekanntheit vor allem Bildmedien verdanken. Bei Berühmtheiten des Films kommt hinzu, dass die Dominanz des US-Kinos viele Schauspieler und Schauspielerinnen kleinerer Länder marginalisiert. Und wenn die TV-Sender, ob staatlich oder privat, alte Filme wiederholen, dann bevorzugt US-Produktionen.
Die vor vierzig Jahren am 30. September 1985 verstorbene französische Schauspielerin Simone Signoret hat für künstlerisch und politisch Interessierte ein Werk hinterlassen, das in vielerlei Hinsicht erinnerungswürdig ist. Nicht nur durch die Filme, an denen sie als Schauspielerin beteiligt war, sondern auch durch ihre politische Haltung, die man heute nur verwundert und fasziniert nachvollziehen kann. Vor allem für in unterschiedlichen Künsten Tätige hat sie damit eine Latte gelegt, die nicht leicht zu überspringen ist.
Signoret wurde 1921 in Wiesbaden als Simone Kaminker geboren. Ihr Vater André Kaminker, Übersetzer polnisch-jüdischer Herkunft, war dort als französischer Besatzungsoffizier stationiert. Ihre katholische Mutter Georgette Signoret stammte aus Südfrankreich. Ab 1923 lebte die Familie in Paris. 1976 erschienen dort Signorets Erinnerungen unter dem Titel »La nostalgie n’est plus ce qu’elle était« (wörtlich: Die Nostalgie ist nicht mehr, was sie war; deutsch 1977: »Ungeteilte Erinnerungen«) mit einer verkauften Auflage von etwa einer Million Exemplaren und Übersetzungen in sechzehn Sprachen. Sie legen ohne Prahlerei Zeugnis ab von ihrem Weg als Schauspielerin und politische Akteurin.
Geboren im Café de Flore
Zwar sammelte Signoret schon als Schülerin künstlerische und politische Erfahrungen, sie erwähnt Jean-Paul Sartre, der als Lehrer von Mitschülerinnen die Lektüre von Hemingway, Dos Passos, Steinbeck oder Faulkner empfahl. Charles Trenet (»La mer«) »war uns ungeheuer wichtig. Und der Hot Club. Im Haus der Chemie wurden die ersten Konzerte mit Django (Reinhardt) gegeben.« Aber noch war sie hauptsächlich damit befasst, mit dem Erteilen von Nachhilfeunterricht und Gelegenheitsarbeiten der Mutter finanziell beizustehen, um die zwei jüngeren Brüder über die Runden zu bringen. Der Vater war – familiär und politisch – untergetaucht. Erst viel später erfuhr sie zufällig, dass er sich nach London zu De Gaulle abgesetzt hatte.
»Ich, oder vielmehr die, die ich heute bin, wurde 1941 im Café de Flore geboren«, schrieb sie knapp zehn Jahre vor ihrem Tod. Zuvor war sie künstlerisch und politisch zwar alles andere als konformistisch, hatte als Schülerin Picassos »Guernica« bei der Pariser Weltausstellung 1937 bewundert, ohne vom Spanischen Bürgerkrieg viel zu wissen, und zugleich unmissverständlich festgehalten: »Wirklich in mein Leben eingetreten ist Hitler erst mit der massenhaften Aufnahme von deutschen jüdischen Mädchen in die Oberschule. Wenn die Leute sagen: ›Wir wussten nicht, was in Deutschland vorging‹, frage ich mich, wie sie das gemacht haben. Ich weiß nicht, wie sie sich die Augen zugehalten und die Ohren verstopft haben!«
Doch nun führte sie ein Zufall in dieses Café, in dem sie ohne sich viel darauf einzubilden eine Reihe der oppositionellen Intellektuellen und Künstler kennenlernte, die dort zusammenkamen und nach 1945 das kulturelle Leben weit über Frankreich hinaus prägten: Den Regisseur Alain Resnais oder den Schriftsteller und Filmer Chris Marker kannte sie schon als Schulkameraden, und über den Lyriker, Schriftsteller und Drehbuchautor Jacques Prévert kamen Alberto Giacometti, Pablo Picasso, Michelangelo Antonioni, Jean-Paul Sartre und Louis Aragon hinzu, mit denen meist eine lebenslange Freundschaft entstand. (Mit letzterem focht sie bis an ihr Lebensende politische Sticheleien und Konflikte aus.) Und nach der Befreiung hat sich dieser Kreis noch ungeheuer erweitert.
Signoret erwähnt all diese Menschen nicht so sehr bewundernd, sondern weil sie durch die Auseinandersetzung mit ihnen besser denken und urteilen lernte. Résistance? – »Ich würde lügen, wenn ich das so hinstellen würde, als hätte ich beim Widerstand mitgemacht. Widerstandskämpfer nenne ich nur die, die wirklich ganz bewusst gehandelt haben. Selber habe ich keine Heldentaten vollbracht. Ich habe nichts Schlechtes getan, was an sich schon gar nicht schlecht ist. Rückschauend habe ich begriffen, dass ich häufig in gewisse Sachen verwickelt war (…) Man hat mich Dinge erledigen lassen, über deren Zusammenhänge ich nicht orientiert war.« Und sie nennt als Beispiele: einen Koffer »mit Wäsche« aufbewahren; einen Bekannten übernachten lassen, weil er plötzlich bemerkt, dass er zu müde ist, um nach Hause zu gehen (und sich nach der Befreiung als leitender Partisanenoberst mit Zuständigkeit für ganz Westfrankreich erweist) und ähnliches. Für Vergleichbares wurde ihre »Tante Claire« in Ravensbrück umgebracht.
Signorets begann als Statistin beim Film unter dem weniger als »jüdisch« verdächtigen Mädchennamen ihrer Mutter. Der Anfang ihrer Karriere als Schauspielerin verlief eher schleppend. Seit 1944 lebte sie mit dem Filmregisseur Yves Allégret zusammen, der ihr Ende der 1940er Jahre die ersten Hauptrollen in zwei Filmen verschaffte, bei denen er Regie führte. 1946 kam die gemeinsame Tochter Cathérine Allégret zur Welt, nachdem ein Jahr zuvor die erste Tochter nach neun Tagen in einer Klinik »an den Folgen einer ungeheuerlichen Fahrlässigkeit« gestorben war. Nach fünf Jahren des gemeinsamen Lebens heirateten sie beide, um sich ein Jahr später scheiden zu lassen.
Ihr Werk als Filmschauspielerin ist derart umfangreich, dass hier lediglich einige herausragende Leistungen genannt werden können. »Der Reigen« (nach Arthur Schnitzler) unter der Regie von Max Ophüls katapultierte sie 1950 ins Zentrum der Schauspielkunst (zwei Oscarnominierungen). Eine weitere Hauptrolle folgte 1951 in »Goldhelm« unter der Regie von Jacques Becker, »vielleicht der schönste meines Lebens«, weil »dieser Film in Liebe, Freundschaft und Humor entstand« (British Academy Film Award). Das Hochgefühl hielt an, als sie im selben Jahr den zuvor von Edith Piaf verlassenen Sohn italienischer Einwanderer und Chansonnier Yves Montand heiratete, mit dem sie bis an ihr Lebensende zusammenblieb. Trauzeuge war Jacques Prévert, Picasso zeichnete eine Glückwunschkarte.
Zu dieser Zeit war »Hollywood« kein Thema mehr. »Die Amerikaner«, so Signoret in ihren Erinnerungen, »schickten nach der Befreiung schleunigst Talentsucher nach Europa, die beauftragt waren, alles nach Hollywood abzuschleppen, was geeignet war, die Bestände des amerikanischen Films aufzufrischen.« 1950 hatte sie gemeinsam mit Yves Montand den »Stockholmer Appell« zur Ächtung der Atombombe unterschrieben, was dazu führte, dass sich die USA fast zehn Jahre lang weigerten, Visa für die beiden auszustellen. Darüber hinaus hatten sich beide gemeinsam mit Jean-Paul Sartre, Albert Einstein, Pablo Picasso, Fritz Lang, Bertolt Brecht oder Frida Kahlo als prominente Speerspitze einer weltweiten Massenmobilisierung gegen die Verfolgung und 1951 erfolgte Verurteilung (Hinrichtung 1953) von Julius und Ethel Rosenberg als »Spione« in den USA eingesetzt. Für Signoret lag es daher auf der Hand, dass es bei Arthur Millers Stück »Hexenjagd« (The Crucible; frz: Les Sorcières de Salem), in dem zu spielen ihr und Montand 1954 angeboten wurde, auch um die Hexenjagd unter McCarthy und die Geschichte der Rosenbergs ging. »Wir haben es in zwei Theaterwintern von jeweils sechs Monaten dreihundertfünfundsechzigmal aufgeführt.« Das Drehbuch für den schließlich ab 1957 laufenden, von der DDR koproduzierten gleichnamigen Film mit Signoret, Montand, Michel Piccoli hatte Jean-Paul Sartre auf Wunsch von Arthur Miller geschrieben, der eine Zeit lang die USA nicht verlassen durfte. Oscar-Nominierungen blieben trotz des enormen Erfolges in West- und Osteuropa aus naheliegenden Gründen aus.
Zuvor spielte Signoret eine weitere Hauptrolle in dem »Psychothriller« (ein Begriff, den es damals noch nicht gab) »Die Teuflischen« unter der Regie von Henri-Georges Clouzot, der 1953 mit Montand »Lohn der Angst« gedreht hatte. Generell interpretierte sie die Filme nicht, an denen sie beteiligt war, oder wenn, dann nur sehr kursorisch oder bestimmte Einzelheiten. Gegenüber manchen politischen Kritikern bestand sie darauf, dass es darum gehe, »Geschichten zu erzählen, die nicht schaden, weil es schöne Geschichten sind, was noch lange nicht heißt, dass sie ›demobilisierend‹ wirken. Die Leute zum Lachen zu bringen oder sie rühren, das heißt noch lange nicht, sie zu demobilisieren.«
»Die Deutschen in der DDR konnten sich glücklich schätzen, dass Brecht bei seiner Rückkehr in seine Heimat sich auf ihre Seite geschlagen hatte und nicht auf die andere«, schrieb Signoret zu Beginn ihrer Erzählungen über eine bereits weitgediehene und dann abgebrochene Filmproduktion im Sommer des Jahres 1956 mit der Defa unter der Regie von Wolfgang Staudte: »Mutter Courage« mit Helene Weigel als Courage und Signoret als Yvette Pottier. Sie hatte dazu ihre Deutschkenntnisse aus der Schul- und Besatzungszeit aufgefrischt. Die Arbeit daran wurde abgebrochen, weil Brecht am 14. August gestorben war und sich Weigel außerstande sah, weiterzufilmen.
Überraschung in Hollywood
Der Weg zu ihrem Oscar war ungewöhnlich. Der Impresario und Produzent von Ella Fitzgerald und Oscar Peterson, Norman Granz, hatte sich in den Kopf gesetzt, Yves Montand für Konzerte an den Broadway zu bringen: »An Evening with Yves Montand«. Nach monatelangem Hin und Her erwirkten die US-Veranstalter eine »einmalige« Einreisegenehmigung. Die Premiere am 22. September 1959 mit teilweise ins US-amerikanische Englisch übertragenen Texten war ein derartiger Erfolg, dass das Konzert mehr als einen Monat lang wiederholt werden musste – mit unzähligen Berühmtheiten im Publikum, von Henry Fonda bis Leonhard Bernstein. Der daraufhin geplante zweiwöchige Abstecher nach Los Angeles und San Francisco dehnte sich auf mehrere Monate aus, da Montand unverhofft ein Angebot für die Komödie »Let’s Make Love« (Machen wir’s in Liebe) mit Marilyn Monroe erhalten hatte.
Signoret selbst hatte 1958 »Room at the Top« (Der Weg nach oben) mit dem britischen Regisseur Jack Clayton gedreht, Dreh- und Handlungsort im proletarischen Norden Englands, Premiere 1959. Der Film fand wenig Anklang in Frankreich, in England war er mit seinem Eintreten gegen die erstarrte Klassengesellschaft überaus erfolgreich, so dass der Sprung in die USA gelang. Nun erfuhr Signoret in Hollywood, dass sie – gemeinsam mit Katherine Hepburn, Doris Day, Elisabeth Taylor und Audrey Hepburn – als »beste Schauspielerin« für den Oscar nominiert war, der ihr schließlich zuerkannt wurde. Es handelte sich auch um eine politische Wahl, zumal am Tag nach der Nominierung zwei Artikel viel Aufsehen erregten: im einen wurde Signoret mit »Frau Goebbels im Jahr 1938« verglichen, im anderen »wurde ich aufgefordert, meine Mitgliedsnummer bei der Kommunistischen Partei anzugeben, und gebeten zu erklären, was ich bei der Defa in dem Film eines gewissen Bertolt Brecht getan hätte«.
Solidarität mit Algerien
Kaum in Frankreich zurück, meldete sich Claude Lanzmann bei ihr, an den man sich heute fast nur mehr wegen seiner Holocaustdoku »Shoah« erinnert. Angeregt von Sartre sammelte er Unterschriften für den Unabhängigkeitskampf des algerischen Volkes. »Ich unterschrieb das Papier, das unter der Bezeichnung ›Manifest der 121‹ berühmt geworden ist.« Heute werden die Konsequenzen für die Unterzeichner (von Pierre Boulez bis Nathalie Sarraute) gerne verdrängt: »Jede Person, die diesen Text unterschrieben hatte, war verboten für Sendungen, Bühnenaufführungen und in der Fernsehtagesschau.« Arbeitgebern, die dieses Verbot nicht beachteten, drohte die Streichung der Subventionen.
Nach dem Oscar folgten Filme wie »Das Narrenschiff« (mit Oskar Werner), »Die Katze« (mit Jean Gabin), »Der Sträfling und die Witwe«, »Die Löwin und ihr Jäger« (beide mit Alain Delon) und schließlich »Madame Rosa«, eine ehemalige Prostituierte, die als Jüdin das KZ Auschwitz überlebt hatte. Zwei Filme sind besonders hervorzuheben. 1967 hatten in Griechenland Militärs geputscht und eine faschistische Junta installiert. Mit Yves Montand in der Hauptrolle hatte Constantin Costa-Gavras 1967/68 das Buch von Vassilis Vassilikos über den 1963 in Thessaloniki auf offener Straße ermordeten antifaschistischen Politiker Grigoris Lambrakis verfilmt: »Z«, dessen Drehbuch alle Produzenten abgelehnt hatten.
Ein Jahr später übernahm derselbe Montand mit Signoret als Filmgattin die Rolle des Artur London, der als Mauthausen-Überlebender und tschechoslowakischer Vizeaußenminister 1951 in Prag verhaftet und in dem mit antisemitischen Untertönen geführten Slansky-Prozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden war (1956 freigelassen, 1963 rehabilitiert und nach Frankreich ausgewandert). »L’aveu« (Das Geständnis, Drehbuch wie bei »Z«: Jorge Semprún) wurde zu einem ebensolchen Erfolg wie »Z«. Dieser Film wurde nicht gedreht, »um der französischen Kommunistischen Partei wehzutun. Wir hatten Kommunisten unter uns. Sie standen alle mit Namen im Vorspann«, und Montand sang zur selben Zeit Lieder der Kommunisten Nâzım Hikmet, Louis Aragon und anderer. Der Generalsekretär der französischen KP, Maurice Thorez, hatte 1963, ein Jahr vor seinem Tod, Artur Londons Frau Lise mit ihrem Sohn bei sich zum Essen eingeladen und im darauffolgenden Winter in Callan nahe Cannes besucht. Aber nicht zuletzt die Geopolitik hatte den Kommunismus deformiert, und der Fall London war wie manch anderes nicht nur in der französischen KP tabu.
Anderswo tabu war jahrelang ein anderer Film, der ebenfalls 1969 erschien: »L’Armée des ombres« (Armee im Schatten), Regie Jean-Pierre Melville, neben Signoret in einer Hauptrolle unter anderem mit Lino Ventura, Serge Reggiani und Nathalie Delon. Man könnte ihn als Thriller über den Kampf der Résistance bezeichnen. Erst mehr als acht Jahre nach der Premiere wurde er in Westdeutschland gezeigt. Vielleicht auch, weil er das Frankreich zwischen Kollaboration, Gleichgültigkeit und Distanz, ein zentrales Thema Signorets, ebenso wenig ausspart wie den Terror der deutschen Besatzer.
Einige Monate nachdem Montand den Vertrag mit der sowjetischen Konzertagentur für Auftritte Montands in der Sowjetunion und anderen Warschauer-Pakt-Ländern unterzeichnet hatte, kam »der November 1956, der traurigste, absurdeste, grausamste und lehrreichste Monat unseres gemeinsamen Lebens«: »Im Fernsehen wurden Aufnahmen des brennenden Budapest sehr viel häufiger gesendet, als Berichte über das, was sich in Suez abspielte. Die Entführung Ben Bellas und seiner vier Kameraden aus Algier wurde als äußerst gelungener Scherz betrachtet.« – Die kulturell-politischen »Schlachtenbummler« waren erwartungsgemäß in zwei Lager geteilt: Wenn ihr hinfahrt, gebt ihr den Russen einen Freibrief, riefen die einen; wenn ihr dableibt den Reaktionären, warnten die anderen. »Alles war mörderisch, das Mitgefühl der einen und der Hass der anderen.« Die Entscheidung fiel, als ein Produzent Montand anrief und erklärte: »Wenn du dorthin fährst und singst, wird nichts aus dem Film« (über Modigliani), worauf Montand noch im selben Telefonat antwortete: »Ich war nicht sicher. Aber jetzt fahre ich.«
Montand war in der Sowjetunion kein Unbekannter. Französische Chansons waren in den 1950er- und 1960er Jahren weitverbreitet und beliebt. Russische Lieder und französische Chansons befruchteten einander, und Sowjetbürger »pfiffen die Melodie der ›Grands Boulevards‹ lange bevor sie ›Lohn der Angst‹ gesehen hatten«, meinte Signoret zur Beliebtheit beispielsweise von Montands Chanson über das »Flanieren auf den großen Boulevards«. Und noch zu Beginn der 1960er Jahre sang Gilbert Bécaud mit dem Lied »Nathalie« eine Hymne auf Moskau, den Roten Platz – und die Begegnung dort mit Nathalie, die des Reimes wegen nicht Natascha hieß. Signoret hingegen galt trotz eines dort wenige Jahre zuvor gezeigten Films mit ihr in der Hauptrolle nur als »Frau von Montand« und fungierte wie schon zu Beginn in den USA »als Groupie«, wie sie schrieb. Unangekündigt und völlig überraschend konnte das Publikum eines Abends »zwei Schauspiele verfolgen: Montand auf der Bühne und die fünf klatschenden Männer in ihrer Orchesterloge: Chruschtschow, Molotow, Mikojan, Bulganin und Malenkow«. Ebenso unangekündigt und überraschend luden die sowjetischen Spitzenfunktionäre dann zu einem »kleinen Souper« in einem Speisezimmer hinter der Orchesterloge – ohne Kameras und Mikrofone. Sodass »wir die aufregendsten drei Stunden unseres Daseins als Sänger und Schauspielerin erleben sollten«.
t Chruschtschow
Es gibt nichts, was gegen die Glaubwürdigkeit von Signorets Wiedergabe der offenen Diskussion spräche. Montand verurteilte die Militärintervention in Budapest, worauf Chruschtschow auf Stalin und seine Gefolgsleute in Ungarn und Polen und seinen eigenen Bericht vom 20. Parteitag verwies, der in Frankreich noch als »angeblicher« bezeichnet worden war. »Wir retteten den Sozialismus vor der Konterrevolution.« – »Aber, sagte Montand, auch Tito haben Sie früher für einen Konterrevolutionär und einen Verräter gehalten. – Fehler der Vergangenheit, antwortete Chruschtschow.« – »Und wir erzählten ihm über Paris im November 1956, über die Verwirrung mancher Mitglieder der Kommunistischen Partei, die sich trotzdem die Köpfe einschlagen oder sich beschimpfen ließen, um sie, die Russen, zu verteidigen. Die Sprengung der Friedensbewegung« und so weiter. »Und ich schwöre, dass sie uns zuhörten. Es war eine außerordentliche Erleichterung, dass wir den Vertretern der größten Kommunistischen Partei der Welt ins Gesicht sagen konnten, was wir versucht hatten, den französischen Kommunisten klarzumachen.« Montand stellte klar, dass sein Kommen kein Einverständnis bedeutete, und man dankte ihm für seine Offenheit, und Signoret beendete am Ende die Trinksprüche, indem sie ihr Glas »auf die Prawda« erhob – »nicht auf die Zeitung Prawda«, sondern auf die Wahrheit. »Darüber mussten sie sehr lachen.«
Signorets Schilderungen der manchmal euphorischen oder auch traurigen Begegnungen mit Konzertbesuchern oder in Betrieben ergeben noch heute ein beeindruckendes Bild des zwiespältigen Zeitgeists in der damaligen Sowjetunion, ebenso bei den darauffolgenden Stationen in Osteuropa – samt Begegnungen mit Ilja Ehrenburg, Miloš Forman oder Nâzim Hikmet. Ihre Glaubwürdigkeit wird noch dadurch verstärkt, dass sowohl sie als auch Montand jegliche Prahlerei vermieden. Noch in Moskau wollte der französische Botschafter erfahren, worüber beim »kleinen Souper« gesprochen wurde. »Über sehr interessante Dinge, sagte mein Mann, der kein Auskunftgeber für den Quai d’Orsay (das Außenministerium) ist.« Und wieder in Paris blockten beide alle Journalistenanfragen ab: »Unsere Feinde vom November sollten nicht die Befriedigung haben, unsere Bitterkeit genießen zu können, und unsere Freunde vom November auch nicht die Freude, sich mit unseren angeblichen Begeisterungsausbrüchen großzutun.«
Dies entsprach auch »einer Art Protokoll, das wir unter uns festlegten, nachdem wir von unseren Reisen nach Osten und Westen zurückgekehrt waren«. Und: »Wir haben niemals persönliche Beziehungen mit denen, die an der Macht waren, gehabt. Wir sind nicht ins Élysée gegangen, als de Gaulle uns einlud, wir sind nicht hingegangen, als Pompidou uns einlud, und wir würden auch nicht hingehen, falls Mitterrand der Einladende wäre.«
Simone Signoret starb im September 1985 in Auteuil-Authouillet, fünfzig Kilometer westlich von Paris. Sechs Jahre später wurde Yves Montand auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise im gemeinsamen Grab beigesetzt.
Karl Wimmler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 18. Juni 2025 über die militärische Aggression der USA gegen Kambodscha: »Konflikt ohne Vorgeschichte«.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (30. September 2025 um 20:52 Uhr)Ab Mittwoch läuft in Frankreich der Film (Biopic) »Moi qui t’aimais: Montand-Signoret« von Diane Kurys.
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