Ernste Mienen und volle Taschen
Marc Chesney war bis 2024 Inhaber des Lehrstuhls für Finanzmathematik an der Universität Zürich. In seinem nun aus dem Französischen übersetzten Buch setzt er sich mit kritischer Schärfe mit dem »finanzialisierten Kapitalismus« der Gegenwart und mit der Legendenbildung einer opportunistischen Wirtschaftswissenschaft auseinander. »Grünes Wachstum« etwa und die Idee, »Märkte« für Emissionsrechte oder Biodiversitätszertifikate zu schaffen, nennt er einen »zynischen Ausverkauf«: »Wer mit Biodiversitätszertifikaten handelt, handelt mit Leben und Tod.« Die »Aneignung von Lebewesen, um sie bei Bedarf auszurotten«, sei damit weiterhin erlaubt – »vorausgesetzt, man wahrt auch weiterhin die Form und hält die Regeln ein – die Marktregeln natürlich«.
Chesney fordert eine »kopernikanische Wende im sozioökonomischen Bereich«, ist sich aber gleichzeitig darüber klar, dass es »Inquisitoren« und allerlei »Krücken eines Zombiesystems« gibt, darunter die großen Medien und viele Ökonomen (ein ausführliches Kapitel beschäftigt sich mit der »Korruption an den Hochschulen«), die alles dafür tun, um »den Status quo beizubehalten«. In diese Richtung wirke auch die »allgemeine Abstumpfung« und Ruhigstellung durch eine »Gesellschaft des Spektakels«, in der die Bevölkerung unbegrenzten Zugang zu »virtuellen Aggressionen« und »Gewalt und Vulgarität bis zum Abwinken« hat, während sich Reichtum und Macht »wie nie zuvor in der Geschichte in den Händen einer radikalisierten, inkompetenten Kaste« konzentrieren. Zu den »grotesken Zirkusvorstellungen« zählt Chesney auch die jährlichen Weltklimakonferenzen.
Der Finanzsektor habe derweil eine »extreme, ja irrwitzige Macht erreicht, die den demokratischen Prinzipien, welche angeblich die westlichen Länder leiten, zuwiderläuft«, während sich viele Menschen »leider häufig der extremen Rechten oder der libertären Spielart des Kapitalismus« zuwenden. Mit dem »libertären Extremismus«, der »Agenda der extremsten herrschenden Gruppierungen«, der darauf aus sei, im Namen des Privateigentums dem größten Teil der Menschheit jegliches Eigentum zu rauben, setzt sich Chesney durchweg und in einem eigenen Unterkapitel auseinander. Der Austritt Großbritanniens aus der EU etwa ist für ihn ein Sieg dieser Interessen, deren langfristiges Projekt es in diesem Fall sei, ein »Singapur an der Themse« mit einem »in der englischen Geschichte noch nie dagewesenen System der Vermögensakkumulation« zu etablieren.
Mit vielen für den deutschen Leser neuen Informationen stellt Chesney die Hintergründe der Pleite der Credit Suisse im Jahr 2023 dar. Als die Schweizer Großbank 1988 die US-Bank First Boston übernahm, sei sie damit »in die Topliga der Finanzkasinowirtschaft« aufgestiegen. Fortan, so Chesney, ging es dem Management nicht mehr um das traditionelle Verwalten von Vermögen »allzu oft zweifelhafter Herkunft« und das Einstreichen von Zinsen für ausgereichte Kredite, sondern um das »schnelle Anhäufen von riesigen Gewinnen«. 2020 handelte die Bank mit Derivaten mit einem Nennwert in der fünfundzwanzigfachen Höhe des Bruttoinlandsprodukts der Schweiz.
Als das Konstrukt im März 2023 zusammenbrach, sei im Laufe eines Wochenendes »eine Lösung gebastelt« worden, die zur Übernahme der Credit Suisse durch die UBS führte. Kein einziges der seit der Bankenkrise von 2008 geschaffenen Regularien habe in dieser Krise gegriffen: »Im Endeffekt wurde hier ein Koloss geschaffen, der die Schweiz unter Kontrolle hat, anstatt dass sie ihn kontrolliert.« Das Management der Credit Suisse sei mit »ernsten Mienen«, aber »vollen Taschen« vom »Spieltisch des Finanzkasinos« abgetreten. Die ökonomische Wissenschaft vor allem in der Schweiz habe auf den Konkurs der zweitgrößten Bank des Landes mit »ohrenbetäubendem Schweigen« oder »einlullendem Geschwätz« reagiert – aus »Willfährigkeit gegenüber dem Finanzsystem«. (jW)
Marc Chesney: Stopp. Gegen Kasino-Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur. Westend, Neu-Isenburg 2025, 158 Seiten, 20 Euro
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