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Aus: Ausgabe vom 19.09.2025, Seite 10 / Feuilleton
Doku

Sieben Gramm

Eine exzessive Schauspielervita: Die Netflix-Doku »aka Charlie Sheen« verzichtet auf unnötige Skandalisierungen
Von Norman Philippen
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Bad Boy, good Boy: Charlie Sheen und Angus T. Jones in »Two and a Half Men«

Lange vor der Erfindung nachweislich verhängnisvoller Empfehlungsalgorithmen, mit denen soziale Medien Krieg wider die Sozialität führen, waren bereits schlechte gute Nachrichten. Eine Medienbinse, klar, die skandalaffine Kunst-/Rock- oder eben Filmstars im Laufe der vergangenen Jahrzehnte nicht müde wurden, immer wieder zu bestätigen. Wie fad wäre doch das Normaloleben, erführe man nicht, dass Amber Heard auf das Kopfkissen eines derangierten Johnny Depps schiss. Das Publikum meint, ein Recht darauf zu haben, pikante Details zu erfahren über den Hang von Popstars, Sex mit Prostituierten zu haben, Heroin zu konsumieren und so weiter.

Charlie Sheen nahm kiloweise Crack. Nachrichten mit großem Neuigkeitswert sind die Eskapaden des seit dem Antikriegsfilm »Platoon« (1986) früh zu Ruhm gekommenen, einstigen Hollywood-Bad-Beaus eher nicht. Anlässlich seines 60. Geburtstags am 3. September bekam Sheen von Netflix gleichwohl die Gelegenheit, ausführlich von ihnen zu erzählen.

Zu Wort kommen Sheens Exfrauen Denise Richards und Brooke Mueller, die sehr persönliche Einblicke gewähren in die wahrlich nicht leichte Zeit mit Sheen und ihm anscheinend – wie auch Sohn und Tochter – verziehen haben. Sheens Ko-Star aus der Sitcom »Two and a Half Men« (2003–2011), Jon ­Cryer, weiß ebenso unterhaltsam aus dem Nähkästchen zu plaudern wie Schauspieler Sean Penn. Letzterer gibt zu bedenken, dass es sich bei seinem alten Freund womöglich um eine Art Unsterblichen mit besonderer Körperchemie handeln könnte – wer sonst könnte sieben Gramm schwere Crack-Steine konsumieren ohne an erektiler Dysfunktionalität zu leiden? Dass Mengenangaben wie diese wahr sind, bezeugt nicht zuletzt Sheens Dealer und Konsumkumpel. »Mein Drogendealer war auch mein Freund, er hat versucht, mich von der Sucht wegzubringen.« Und es gelang ihm sogar, weiß der heute laut Selbstauskunft sieben Jahre cleane Sheen. Für Drogen und Frauen – in erster Linie – will Sheen 100.000.000 US-Dollar ausgegeben haben. So was war anscheinend möglich als prominenter Kunde der nach Auffliegen ihres exklusiven Prostitutionsrings 1993 ebenfalls zu einiger Prominenz gelangten Heidi Fleiss, die im Gegensatz zu den anderen keine guten Worte für Sheen findet.

Dauerexzesse wie diese überleben selbstverständlich nur Kerle, in deren Adern Tigerblut fließt. Dass Sheen so ein Kerl ist, hat er während seines auf den Rausschmiss als bestbezahlter Schauspieler bei »Two and a Half Men« 2011 folgenden, nicht enden wollenden, medial bestens dokumentierten Absturzes zu Protokoll gegeben. Unmengen Adrenalin spritze er sich auch – gut für ein gehobenes Energielevel. Und während im Jahr zuvor die medial eng begleitete »Hypersexualität« Tiger Woods den harten Tod durch Presse bedeutete, wurde Sheen für seine Exzesse gefeiert, brach er Followerrekorde bei Twitter.

Das lag nicht zuletzt an den unterschiedlichen Maßstäben, die es nun mal gibt für Profigolfspieler und Bad Boys aus Hollywood. Es lag aber auch daran, dass Sheen die Dinge nie beschönigte. Er gab sich nicht reumütig, sondern sagte, wer und was war. Unterhaltsam ist er dabei allemal: »Ich stehe zu allem, was ich getan habe. Endlich erzähle ich die Geschichten so, wie sie tatsächlich passiert sind. Die Geschichten, an die ich mich erinnern kann, jedenfalls.« Was wiederum dazu beiträgt, dass »aka Charlie Sheen« keine Schockchronik ist, sondern das Porträt eines mit Ruhm, Drogen und fatalen Drängnissen kämpfenden ikonischen Schauspielers. Am Ende erscheint er fast wie ein normaler Mensch. Man könnte Charlie zu ihm sagen.

»aka Charlie Sheen«, zwei Teile à 90 Minuten bei Netflix

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