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Aus: Ausgabe vom 19.09.2025, Seite 7 / Ausland
Gazakrieg

Keine Gnade mit Kindern

Jeden Tag Kopfschüsse: Internationale Mediziner im Gazakrieg berichten über gezielte Tötungen durch israelische Scharfschützen
Von Gerrit Hoekman
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Geflüchtete Familie in Khan Junis am Mittwoch

Durchschnittlich jede Stunde tötet Israels Armee im Gazastreifen seit 23 Monaten ein Kind, und immer wieder werden sie mit einer einzigen Schusswunde im Kopf oder in der Brust in Krankenhäuser eingeliefert. Beides Zeichen für eine gezielte Tötung durch israelische Scharfschützen. Die niederländische Tageszeitung De Volkskrant sprach mit 17 Ärzten aus den Niederlanden, den USA, dem Vereinigten Königreich, Kanada und Australien, den einzigen internationalen Augenzeugen des Gazakriegs. Ausländische Journalisten dürfen schon lange nicht mehr aus der palästinensischen Enklave berichten.

Einer der Ärzte, die in dem Bericht vom Sonnabend zu Wort kommen, ist der US-Amerikaner Feroze Sidhwa. Er arbeitet normalerweise als Unfallchirurg im Krankenhaus von Stockton, Kalifornien. Im März 2024 half er freiwillig im Europäischen Hospital in Gaza. Gleich am ersten Tag wurde er stutzig: Vier Kinder lagen mit jeweils einer einzigen Schussverletzung im Kopf auf seiner Station. »Wie ist es möglich, dass innerhalb von 48 Stunden vier Kinder mit Kopfschüssen in dieses kleine Krankenhaus eingeliefert wurden?« habe er sich gefragt, wie er der Volkskrant am Telefon erzählte. Die vier Kinder seien schließlich gestorben.

In den nächsten zwei Wochen wurden weitere neun Kinder ins Hospital gebracht, die von einer einzigen Kugel in den Kopf oder die Brust getroffen worden waren. »Ich dachte, mein Krankenhaus könnte in der Nähe eines verrückten Scharfschützen liegen«, erinnert sich Sidhwa. »Oder eines Drohnenteams, das zum Spaß auf Kinder schießt.« Zurück in Kalifornien erzählte ihm ein Kollege, der in einem anderen Krankenhaus in Gaza tätig war, er habe genau dasselbe erlebt. Fast jeden Tag.

Ärzte, die in Gaza arbeiten, »müssen mit ansehen, wie verletzte Kleinkinder an ihrem eigenen Blut in ihren Armen ersticken, weil es kein Beatmungsgerät gibt. Sie müssen in der Lage sein, ihre Skalpelle ohne Betäubung in die Brust eines Teenagers zu stoßen, weil sie sonst keine Zeit für den nächsten hätten. Sie müssen zusehen, wie ihre Böden mit toten Kindern übersät werden«, schreibt die Volkskrant. Sidhwa und seine Kolleginnen und Kollegen stecken in einem Dilemma: Einerseits wollen sie der Welt mitteilen, welche Greueltaten im Gazastreifen geschehen, andererseits laufen sie dann Gefahr, nicht mehr vor Ort helfen zu können, weil Israel sie möglicherweise nicht mehr einreisen lässt. »Nach Angaben der Vereinten Nationen ist dies seit März 2025 mehr als hundert ausländischen Mitarbeitern des Gesundheitswesens passiert. In fast allen Fällen lieferte Israel keine stichhaltige Erklärung«, so die Volkskrant.

Die Indizien, dass Scharfschützen gezielt Jagd auf palästinensische Zivilisten machen, mehren sich. Der Fall des anscheinend aus München stammenden Daniel G. geht seit kurzem durch die Gazetten. Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat demnach Anzeige gegen ihn wegen begangener Kriegsverbrechen erstattet. Die Recherchen der Menschenrechtsorganisation weisen auf die Existenz einer Scharfschützeneinheit hin, an der Daniel G. beteiligt sei.

Wie Soldaten zu Tätern werden, berichtete am Montag die israelische Tageszeitung Haaretz in einem Text zu den psychischen Folgen für die Militärs im Gazakrieg. Einer von ihnen erzählte gegenüber dem Blatt, dass er jeden Tag 50 bis 60 Kugeln abschieße. »Ich habe keine Ahnung, wie viele ich getötet habe, viele. Kinder.« Beni, Scharfschütze in der Nahal-Brigade, berichtete von einem Vorfall im vergangenen Jahr: »Ich sah zwei Leichen von Kindern, vielleicht acht, vielleicht zehn Jahre alt (…). Überall Blut, überall Einschusslöcher, ich wusste, dass ich dafür verantwortlich war. Ich wollte mich übergeben.« Den Offizieren sei es egal, dass Kinder sterben, »es ist ihnen auch egal, was das mit mir macht, für sie bin ich nur ein weiteres Werkzeug«. Der Soldat musste psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Von Offizieren erfuhr Haaretz, dass es noch nie so viele Soldaten gegeben habe, die sich vom Dienst in der Armee haben befreien lassen.

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