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Aus: Ausgabe vom 19.09.2025, Seite 6 / Ausland
Algerien

Neue Regierung, alte Prinzipien

Algerien stärkt Rolle in Afrika durch klare Haltung im Nahostkonflikt und wirtschaftliche Großprojekte
Von Sabine Kebir
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Nigerias ehemaliger Präsident Olusegun Obasanjo besucht seinen Amtskollegen Abdelmadjid Tebboune (Algier, 9.7.2025)

Dass im Präsidialsystem Regierungen innerhalb der Legislaturperiode schnell mal umgestaltet werden können, macht gerade Frankreich vor. In Algerien, das das Präsidialsystem von der ehemaligen Kolonialmacht geerbt hat, ist das gerade auch geschehen. Dort verweist es aber nicht auf eine ähnlich gravierende Systemkrise. In dem Maghrebstaat wird das Sozialsystem eher weiterentwickelt als abgebaut. Insofern stürzt dort eine Regierung auch nicht, weil sie – wie die französische – keinen Haushalt verabschieden kann. Was war geschehen?

Am 28. August entließ Präsident Abdelmadjid Tebboune Premierminister Nadir Larbaoui, einen ehemaligen Diplomaten und Rechtsanwalt. Den Ausschlag hat letztendlich wohl ein tragisches Unglück gegeben. Am 15. August versagten die Bremsen eines Busses, und er stürzte von einer Brücke in das Flüsschen El Harrach. 18 Menschen verloren dabei ihr Leben. Die Suche nach der Unfallursache ergab schnell die Überalterung und mangelhafte Wartung fast des gesamten Busparks Algeriens. Dieser wird teilweise öffentlich, teilweise privat betrieben, und offensichtlich fehlte ein effizienter TÜV. Tebboune beschloss, dass der öffentliche Buspark fast komplett erneuert werden muss, was bedeutete, dass sofort 10.000 Busse im Ausland bestellt wurden.

An Larbaouis Stelle wurde am Sonntag der ehemalige Industrieminister Sifi Ghrieb zum Ministerpräsidenten ernannt. Er kann eine lange Karriere in Wirtschaftsunternehmen vorweisen. Zudem gibt es nur vier neue Minister, die anderen behielten ihre Ressorts oder wechselten sie. Zwei von den neuen Ministern sind Frauen, deren Anteil sich auf neun erhöhte. Nassima Arkab übernimmt das Ministerium für Berufs- und Weiterbildung und Amal Abdelatif wird Ministerin für den Binnenhandel. Die wichtigsten Ressorts wurden nicht neu besetzt. Der Präsident selbst übt weiter das Amt des Verteidigungsministers aus, und General Said Chengriha bleibt Staatssekretär in diesem Ministerium, auch Lotfi Boudjema behält sein Amt als Justizminister.

Außenminister bleibt Ahmed Attaf. Er wird sein Land, das einen zeitweiligen Sitz im UN-Sicherheitsrat einnimmt, auch weiterhin dort vertreten. Das hat insofern herausragende Bedeutung, als Algerien nicht nur in der Frage der Westsahara, sondern auch, was den israelisch-palästinensischen Konflikt betrifft, eine kompromisslosere Haltung vertritt als viele andere islamische Länder. Es hat immer wieder erklärt, dass es nicht nur diplomatische, sondern auch Handelsbeziehungen mit Israel so lange ablehnt, bis ein Staat Palästina entsteht.

Wegen dieser Positionen wird Algeriens Rolle als wichtiger politischer Akteur bei der afrikanischen Integration zur Zeit von einigen Staaten in Frage gestellt. Durch die erfolgreiche ökonomische Entwicklung der vergangenen Jahre ist das Land aber auch zu einer bedeutenden Kraft für die wirtschaftliche Unabhängigkeit und Integration des afrikanischen Kontinents geworden. Als solche konnte sich Algerien bei der alle zwei Jahre in einem anderen afrikanischen Land stattfindenden Messe »Intra-African Trade Fair« (IATF) präsentieren, die diesmal vom 4. bis 10. September in Algier abgehalten wurde.

Algerien ist dabei, die größte innerafrikanische Gaspipeline zu bauen. Sie wird bis an die Atlantikküste Nigerias verlaufen und den Export von Gas der angeschlossenen Länder in die EU um vieles rentabler machen. Auch andere transnationale Energieprojekte wie der Ausbau von länderübergreifenden Stromnetzen und die gemeinsame Nutzung von Sonnenenergie werden vorangebracht. Weiterhin geplant ist die Zusammenarbeit bei der Auf- und Weiterverarbeitung afrikanischer Bodenschätze und die Entwicklung afrikanischer Samenbanken für die Landwirtschaft. Besonders die letzten beiden Punkte sollen zur Verringerung der Abhängigkeit von Know-how und Importen aus der EU beitragen. Algerien selbst hat sich verpflichtet, seine Rohstoffimporte künftig konsequent aus dem afrikanischen Raum zu beziehen, und es unterstützt lebhaft die Entwicklung einer afrikanischen Freihandelszone. Auf der IATF, an der 140 Länder teilnahmen, wurden Verträge für Handel und Investitionen im Wert von 44 Milliarden US-Dollar abgeschlossen – womit das Potential noch lange nicht ausgeschöpft ist.

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