Tickets für die Rosa-Luxemburg-Konferenz
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. September 2025, Nr. 225
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
Tickets für die Rosa-Luxemburg-Konferenz Tickets für die Rosa-Luxemburg-Konferenz
Tickets für die Rosa-Luxemburg-Konferenz
Aus: Ausgabe vom 19.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
US-Whistleblower

»Legen willkürlich fest, wer Terrorist ist«

Die US-Ermittlungsbehörden haben einen »Blankoscheck« für die Verfolgung vermeintlicher Bedroher. Linke und Minderheiten sind betroffen. Ein Gespräch mit Terry Albury
Von Interview: Max Grigutsch
3.JPG
Männer mit FBI-Weste halten einen Mann außerhalb einer Kirche in der US-Hauptstadt fest (Washington, D. C., 14.8.2025)

Im Jahr 2018 wurden Sie auf Grundlage des Espionage Act, des US-Spionagegesetzes, zu vier Jahren Haft verurteilt. Der Grund: Als Agent der Bundespolizei FBI haben Sie Dokumente an das Nachrichtenportal The Intercept weitergegeben. Wie kam es dazu?

Der Espionage Act soll Personen, die Zugang zu Informationen haben, die von der Regierung willkürlich als geheim oder vertraulich eingestuft werden, daran hindern, diese offenzulegen. Während meiner Tätigkeit beim FBI war ich in den sogenannten Krieg gegen den Terrorismus (War on Terrorism, Maßnahmen der US-Regierung zur vermeintlichen Terrorismusbekämpfung nach dem 11. September 2001, jW) eingebunden. Meine Erfahrungen aus erster Hand verschafften mir eine Perspektive, die andere nicht hatten. Ich kam an einen Punkt in meinem beruflichen und privaten Leben, an dem ich nicht weiterhin mitschuldig sein konnte. Man geht viele Kompromisse ein, um der kapitalistischen Klasse zu dienen. Weil es dein Job ist, weil du eine Familie zu versorgen hast, weil du deinen Ruf zu wahren hast. Auch ich habe mich dessen schuldig gemacht. Ich war insgesamt fast 17 Jahre beim FBI. Irgendwann wusste ich: Genug ist genug.

Können Sie darüber sprechen, was Sie der Öffentlichkeit preisgegeben haben?

Ich schätze Ihre direkte Frage. Ich möchte nicht ausweichen, aber es gibt rechtliche Aspekte, die ich beachten muss. Was öffentlich bekannt ist, wurde von The Intercept berichtet. Grob gesagt: Die Dokumente – nicht dass sie der Schlüssel zum geheimen Reich der US-Regierung gewesen wären – reichten aus, um einen ihrer eigenen Leute zu inhaftieren. Sie beziehen sich darauf, wie die US-Regierung unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung das nationale Sicherheitsrecht als Waffe einsetzt. Sie beziehen sich auf die willkürliche Festlegung, was und wer ein Terrorist ist. Wie das System Ihr Leben zerstören kann, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Dass sie jemanden ein Jahr, fünf Jahre oder ein Jahrzehnt lang überwachen können, weil die betroffene Person die etablierte Ordnung in Frage stellt.

War das etwas Neues?

Aktive der Bürgerrechtsbewegung sagten mir, dass meine Dokumente nichts enthüllt haben, was sie nicht bereits wussten. Aber meine Unterlagen bestätigten ihre Überzeugungen. Nicht nur in den USA, sondern auf der ganzen Welt. Der Arm des US-Imperiums reicht über seine Grenzen hinaus und kann diesen völlig unbegründeten und willkürlichen Krieg gegen den Terrorismus überall führen. Wer als Terrorist gilt, ändert sich ständig. Und morgen sind sie Freiheitskämpfer. Morgen führen sie ein Land an. Wie im Fall Syrien: An einem Tag ist jemand der oberste Terrorist der Liste der Regierung, am nächsten Tag ist er ein Leuchtturm der Freiheit und Demokratie. Aber der größte Terrorist auf diesem Planeten ist die US-Regierung, dicht gefolgt von Israel. Die Kriege im Irak, in Afghanistan und in Vietnam – man muss nur ein Geschichtsbuch aufschlagen.

Ihre Leaks offenbarten insbesondere die Überwachung von Minderheiten. Das wären also diejenigen, die die US-Regierung am ehesten als Terroristen einstuft, richtig?

Sie sind bequeme Ziele. Seit ihrer Gründung verteufelt die US-Regierung diejenigen, die sie als anders betrachtet. Seien es die Indigenen Nordamerikas, die sie durch einen systematischen Völkermord fast vollständig ausgerottet hat, oder die Versklavung von Menschen afrikanischer Herkunft. Und bis heute gibt es eine Tradition, die ins Visier zu nehmen, die den Status quo bedrohen. Es gab Menschen, die während des Ersten Weltkriegs die vorherrschende Erzählung der Regierung in Frage stellten: die Linken, die Kommunisten, die Antiautoritären. Das machte sie zu Terroristen. Es gibt unzählige Fälle. Denken Sie an Eugene Debs (US-Sozialist, 1855–1926, jW), einen der ersten, der unter dem Espionage Act angeklagt und verurteilt wurde. Die Regierung ist sehr effektiv in ihrer Teile-und-herrsche-Strategie, mit der sie uns gegeneinander ausspielt. Es ist wichtig, zu verstehen, was gemeinsamer Kampf bedeutet. Man muss kein Muslim sein, um zu erkennen, dass Muslime Menschen sind. Man muss kein Palästinenser sein, um zu sagen, dass der Völkermord, die ethnische Säuberung Israels, die seit 70 bis 80 Jahren andauert, falsch ist.

Vieles davon ist politische Taktik. Aber über welche konkreten Mittel verfügen die US-Geheimdienste und Ermittlungsbehörden, um diejenigen zu verfolgen, die sie als Terroristen betrachten?

Sie haben einen Blankoscheck. Ihnen stehen alle Mittel zur Verfügung. Ihre Macht ist grenzenlos. Wenn etwa das FBI einen Durchsuchungsbefehl vollstreckt oder eine Straftat anklagt, gibt es einen Teil des Dokuments, eine Präambel. Und darin steht ein Satz: »Das FBI glaubt …« Gefolgt von einem weiteren Satz: »Aufgrund meiner Ausbildung und Erfahrung …« Das allein hat Gewicht. Das FBI wurde 1908 gegründet. Es hat eine lange Tradition, linke Dissidenten, Kommunisten, Marxisten, Menschen mit anderer Hautfarbe, Mitglieder der Arbeiterbewegung zu verfolgen. Was also kann der Sicherheitsapparat auf der Grundlage dessen, was er glaubt, tun? Es ist willkürlich. Die Dokumente, die ich veröffentlicht habe, beschreiben sehr detailliert, wie jemand beliebig als Bedrohung eingestuft werden kann. Das kann etwas sein wie eine bestimmte Hautfarbe oder eine bestimmte Herkunft.

Ein oberflächliches Merkmal reicht schon, um in diese Kategorie eingeordnet zu werden?

Auf jeden Fall. Damals nannten sie das Initiativen. Als ich in einer Dienststelle in Kalifornien arbeitete, gab es eine sogenannte Hisbollah-Initiative. Das FBI nutzte diese als Grundlage, um die Überwachung von Männern libanesischer Herkunft zu legitimieren. Wir eröffneten Ermittlungsverfahren gegen eine Reihe von Ingenieuren und Wissenschaftlern, die im Silicon Valley arbeiteten. Wir stützten uns dabei auf die Berichte eines Informanten, der Muslime verachtete: ein libanesischer Christ, der behauptete, diese Leute seien Teil eines Beschaffungsnetzwerks der Hisbollah. Die damaligen Chefs beschlossen, diese Leute ins Visier zu nehmen, noch mehr von ihnen zu rekrutieren, sie von der Moschee aus zu verfolgen, ihre Arbeitgeber und alle ihre Bekannten zu befragen und ihren Müll zu durchsuchen. Pen-Register und Trap-and-Trace-Verfahren (Maßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung, jW) wurden eingesetzt, mit dem ultimativen Ziel, etwas zu bestätigen, was eindeutig unbegründet war. Es entsteht eine Art Echokammer aus unbegründeten Informationen, die sich gegenseitig bestätigen.

Glauben Sie, dass die Trump-Regierung die Ermordung des rechten Aktivisten Charlie Kirk nutzen wird, um ihre Angriffe zu verstärken?

Garantiert. Denn was hat Trump gesagt? Es waren die radikalen Linken. Das haben wir im Laufe der Geschichte immer wieder gehört. Der Tod von Charlie Kirk wird hochgespielt werden, um diejenigen zu verfolgen, die sich für grundlegende Menschenrechte einsetzen. Unterdessen wird jeden Tag von diesem System, egal ob es von den Demokraten oder den Republikanern regiert wird, sehr reale Gewalt ausgeübt. Das US-Imperium ist die gewalttätigste Instanz der Welt.

Wussten Sie all das schon, bevor Sie zum FBI kamen?

Gute Frage. Sie denken wahrscheinlich: Warum zum Teufel waren Sie dort? Ich kam zum FBI und war mir seiner Geschichte mit Widerstandsbewegungen sehr bewusst. Mein Onkel war Mitglied der Black-Panther-Party. Ich wusste, was sie den Black Panthers angetan hatten und was sie der schwarzen Gemeinschaft damals wie heute antaten. Aber ich kam als Student und arbeitete in einem Programm, das mit der Bekämpfung von Kinderausbeutung, Sextourismus und ähnlichen Dingen beschäftigt war. Ich glaubte damals, dass ich etwas Gutes bewirken könnte. Dann kam der 11. September und veränderte alles. Ich erhielt mein Ernennungsschreiben vom FBI, ging nach Washington, D. C., und der Fokus lag nun auf dem Krieg gegen den Terrorismus. Das wurde meine Karriere. Ich war ein Fußsoldat in diesem Krieg. Aber mit der Zeit wurde mir klar, dass ich das nicht weiter rechtfertigen konnte. Das System würde sich niemals ändern. Also musste ich das System auf die einzige mir mögliche Weise konfrontieren.

In einem weiteren Artikel in The Intercept wurde beschrieben, dass Sie selbst Rassismus beim FBI erlebt haben?

Das ist ihre Darstellung des Problems. Sie ist nicht unbedingt richtig, weil sie meine Handlungen in einem Narrativ darstellt, das lautet: Ein schwarzer Mann in einer weißen Organisation erlebt Diskriminierung; er ist wütend und reagiert, indem er die Kriminalität und das unethische Verhalten der Organisation aufdeckt. Als schwarzer Mann in den USA habe ich seit meiner Geburt Rassismus erlebt. Wenn man einer marginalisierten Gruppe angehört, kämpft man jeden Tag gegen eine rassistische Machtstruktur. Beim FBI war das nicht anders.

Aber die Geschichte der Schwarzen in diesem Land ist eine Geschichte der Widerstandsfähigkeit. Ja, es gab Erfahrungen beim FBI, die ich ertragen musste. Aber sie hatten nicht die Macht, mich aus der Bahn zu werfen. Die Darstellung, die nach meiner Anklage gemacht wurde – Inhaftierung eines wütenden schwarzen Mannes – ist beleidigend. Was mich wirklich motiviert hat, war, Teil eines abscheulichen, bösartigen Systems zu sein, das unschuldige Menschen terrorisiert.

Was geschah nach Ihren Enthüllungen? Hat sich etwas geändert?

Es ist sogar noch schlimmer geworden. Das FBI und der Sicherheitsapparat haben ihre Bemühungen verdoppelt. Erst kürzlich habe ich Videos gesehen, in denen das FBI Menschen befragt, die gegen den Völkermord in Palästina protestieren. Was ist ihr Ziel? Einschüchterung, Nötigung, Drohung? Sie gehen gegen Menschen auf die gleiche Art und Weise vor wie ich damals. Ich weiß genau, was sie tun. Ich weiß genau, was sie denken. Das einzige, was sich geändert hat, ist die Bereitschaft der Öffentlichkeit, diese Handlungen zu tolerieren. Vor 20 Jahren hätte es niemals eine Gruppe von Studenten auf einem College-Campus gegeben, die sich solidarisch für ein freies Palästina eingesetzt hätte. Der Wandel steht bevor. Aber mit diesem Wandel wird auch eine noch größere Repression einhergehen. Das Imperium ist am Ende. Die einzige Sprache, die es spricht, ist Gewalt, Unterdrückung, Einschüchterung, Zwang.

Und dieselben Leute, die hinter diesen Muslimen aus Jordanien, aus dem Irak und aus anderen Ländern her sind, werden auch hinter Ihnen her sein. Wie lautet das berühmte Gedicht des deutschen lutherischen Pfarrers Martin Niemöller? Zuerst holten sie die Kommunisten, dann holten sie die Sozialdemokraten, dann holten sie die Gewerkschafter. Sie werden auch mich holen. Wir müssen diese Warnung ernst nehmen und solidarisch miteinander sein.

Terry Albury ist ein ehemaliger FBI-Agent und Whistleblower. Nachdem er geheime Dokumente über die Taktiken der US-Ermittlungs- und Geheimdienstbehörde unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung veröffentlicht hatte, wurde er auf Grundlage des Espionage Act zu vier Jahren Haft verurteilt. Seine Offenbarungen bieten die Grundlage der elfteiligen The Intercept-Artikelreihe »The FBI’s Secret Rules«. Am Sonnabend spricht Albury zusammen mit der Investigativjournalistin Lynzy Billing auf einem Podium der Konferenz »Technoviolence« des Disruption Network Lab, die in ­Berlin-Kreuzberg stattfindet und online übertragen wird.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.