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Aus: Ausgabe vom 18.09.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

»Kino ist dialektisch«

»Miroirs No. 3« ist nicht nur ein Klavierstück von Maurice Ravel, sondern auch ein Film über Gespenster in der Uckermark. Ein Gespräch mit Regisseur Christian Petzold
Interview: Irene Tietze und Maik Wiesner
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Radeln wie im französischen Film: Barbara Auer (vorn) und Paula Beer

In Ihrem neuen Film »Miroirs No. 3« tritt die Klavierstudentin Laura (Paula Beer) ins Leben einer trauernden und zersplitterten Familie. Zum Einstand kocht sie das Lieblingsessen von Vater Richard (Matthias Brandt) und Sohn Max (Enno Trebs) – Königsberger Klopse …

Ich wusste, dass die Königsberger Klopse eine gewisse Resonanz hervorrufen würden. Ich habe sie ausgewählt, weil ich das Wort so schön finde: »Königsberger Klopse«, das ist eine brutale deutsche Alliteration. Die Klopse sehen so aus, weil viele am Set heutzutage Vegetarier sind. Früher haben alle geraucht und Whisky getrunken, heute sind sie gesund und trinken Smoothies, und die Klopse werden vegetarisch gekocht.

Die Soße sieht sehr flüssig aus.

Es gibt verschiedene Zubereitungsweisen. Im Westen wurde die Soße sämiger, im Osten blieb sie dünner. Und wir drehen nun mal in der Uckermark. Das ist mein Schicksal: Ich muss Frankfurt (Oder) nehmen, nicht Frankfurt am Main. Die Königsberger Klopse sind so gekocht, wie sie im Osten gekocht wurden.

Das ist also keine Verfremdung, keine Realitätsverschiebung?

Surrealität über Klopse herzustellen, das ist das Spießigste, was man sich vorstellen kann. Surrealismus entsteht nicht dadurch, dass ein Pflaumenkuchen über den Tisch läuft oder der Klops im Wasser ersäuft, Surrealismus ist eine Verschiebung des Blicks. Deshalb spielen die Objekte keine besondere Rolle, sondern die Subjekte und ihre Wahrnehmung. Der Film ist ja auf Augenhöhe gedreht, ohne Sperenzchen. Die Länge der Blicke, wer wen ansieht und wann, das ist für mich, was die Realität verschiebt. Wenn die Familie draußen auf der Veranda ihren Pflaumenkuchen isst, Mutter und Sohn über Geschmack diskutieren, alle lachen, alles so leicht ist, so alltäglich – und dann stehen drei Leute vor dem Haus, schauen hoch, und das Gespräch erstirbt. Aus der Mutter (Barbara Auer) wird plötzlich eine Hexe – das ist für mich eine Wahrnehmungsverschiebung, die auf alltäglichen, banalen Sachen basiert.

Aus der Begegnung mit Fremden?

Ich bin selbst in einer Reihenhaussiedlung aufgewachsen, dort ist der Nachbarschaftsneid brutal. Wir haben es hier mit einer Familie zu tun, die eine Idee von sich als Familie hat – ein frisch renoviertes Haus mit Veranda zur Straße hin, einen Traum –, und die Tochter stirbt. Da kommt Schadenfreude auf. Die Bösartigkeit der Leute auf der Straße führt dazu, dass die Leichtigkeit zerstört wird und aus der liebenden Mutter ein Hexenwesen wird. Man kann sich dann wiederum vorstellen, warum sich die Tochter umgebracht hat, wie ihr die Mutterspinne keinen Freiraum gelassen hat.

Der Film fängt ganz anders an, mit jungen Musikern, es geht um Konkurrenz.

Wir werden identifiziert durch das, was wir tun, durch unsere Arbeit. Deswegen beginnt der Film in dieser Universal-Music-Welt, mit Leuten, die immer etwas zu tun haben. Die Figuren haben alle Biographien bekommen, die im Film nicht erzählt werden, aber sie handeln danach. Diese verlorene junge Frau wird von einer anderen Frau gefunden und sagt: »Ich möchte hier bleiben.« Von da an wird sie nie wieder gefragt, wie ihr Name ist oder was ihr Beruf ist. Sie bekommt Kleidung, ein Bett, etwas zu essen. Sie lernt, wie man den Zaun streicht und sich um den Garten kümmert. Sie bekommt ihr eigenes Fahrrad, sie bekommt eine neue Identität. Sie weiß zwar, dass etwas nicht stimmt, aber es ist schön, nicht sie selbst sein zu müssen. Die große Enttäuschung am Schluss ist, dass der Bruder sie aus diesem falschen Leben herausreißt. Das ist die Geschichte.

Die Geschichte einer Selbstfindung?

Diedrich Diederichsen hat über Ma­thilde Santing, deren Platte am Anfang im Auto läuft, geschrieben, sie würde die Cover darauf so singen, als hätte sie etwas gefunden und würde sich darüber freuen, es gefunden zu haben. So ähnlich erlebt sich die Figur von Paula Beer: Sie findet ihre Sinne, sie kann wieder riechen, schmecken, auch wenn das durch Falschheit und Lüge entsteht.

Wie kommen Sie in dieser Geschichte als Erzähler vor?

Ich wollte das Unprätentiöseste drehen, was man sich vorstellen kann. Ich finde, es darf nichts geben, worauf ich als Autor Einfluss nehme, es muss sich alles auf der Ebene der Protagonisten abspielen. Ich darf nicht den Zeigefinger heben oder den Suspensemoment sichtbar erzeugen. Die Ankunft der beiden Männer – das erste Aufeinandertreffen als Familie – zum Essen funktioniert auf der Ebene der Geschichte, aber auch: Sie werden gesehen, wie sie ankommen. So entsteht sofort eine Komplexität, ohne dass ich mich einer Kamerafahrt, dramatischer Färbung oder Musikuntermalung bedienen würde. Dann sieht man Barbara Auer von hinten auf der Veranda; wir erfahren erst jetzt, dass sie die Frau ist, die ihre Tabletten abgesetzt hat, die vielleicht verrückt ist. Und so erscheint der Moment zuvor, als sie am Bett der Paula Beer saß und sie beobachtete, in anderem Licht. Je einfacher das erzählt wird, desto mehr komplexer Druck wird aufgebaut. Hätte ich da Einfluss genommen und zum Beispiel eine Nahaufnahme gemacht, wäre es prätentiös geworden.

Ihnen scheint es aber trotzdem einen teuflischen Spaß zu machen, die Geschichte so zu verbiegen, dass eine Komödie daraus wird.

Könnte man annehmen, mache ich aber nicht. Ich liebe Balzac, der das literarisch macht, aber ich selbst mag das im Kino nicht, wie bei Wes Anderson zum Beispiel.

Wie vermeiden Sie den humorigen Ton eines Wes Anderson?

Als Zuseher musst du dich zu der Welt, die du siehst, in Beziehung setzen, du bist Produzent, nicht nur Empfänger. In dem Moment, wo dich der Film »abholt«, wirst du entmündigt. Wenn das Paar auf der Veranda eine Zigarette raucht, steckt in der Geste des gemeinsamen Anzündens, dass sie das zehn Jahre lang so gemacht haben, aber der Zuseher muss es selbst imaginieren. In einem 20.15-Uhr-Film würden sie sagen: »Ach, weißt du noch …«

Damit riskieren Sie, dass der Zuschauer nicht versteht, um was es den Figuren geht.

Ich will keine angeberischen Bilder. Es gibt einen Satz von Simenon: »Die Menschen sind zu schlecht ausgestattet für das Leben.« Im Kino sehen wir Menschen zu, die zu schlecht ausgestattet sind für das Leben. Sie bekommen keinen Banküberfall hin, verraten sich, machen Fehler. Das ist eine schöne Haltung dem Leben gegenüber: Wir machen Fehler, aber wir sind Menschen.

In der Autowerkstatt, in die sich die beiden Männer zurückgezogen haben, wird der Kaffee trotzdem ordentlich auf einem Tablett serviert. Darin steckt eine gewisse Komik.

Familien und ihre sozialen Wiederholungen sind ja lustig. Eigentlich könnte auch diese Familie wahnsinnig lustig sein und viel Spaß haben, wenn sie nicht dieses Trauma hätte, wenn nicht diese Katastrophe passiert wäre. Von diesem Moment an ist nichts mehr in Ordnung.

Was hat das alles mit Brandenburg zu tun?

Es gibt in Brandenburg Orte, die heißen Boston oder Philadelphia, die Leute fahren amerikanische Autos. Es gibt also eine Sehnsucht nach dem amerikanischen Traum, und das Kino ist mehr als alle anderen Medien das Medium des Traums, im Traum verhaftet; damit hat die Veranda zur Straße hin zu tun. Es gibt den Traum, wie eine amerikanische Familie dazusitzen und die Nachbarn zu grüßen. Dieser Traum ist zum Alptraum geworden. Wenn Träume zu Alpträumen werden, muss das Kino zur Stelle sein.

Kann man aus diesem Traum ausbrechen? Geht es überhaupt darum?

Die Änderung des Rhythmus entspricht auch dem Traum derer, die raus aus Berlin in die Uckermark wollen, um den Bäumen beim Wachsen zuzusehen. Darin steckt der Wunsch, dass die Welt einfach mal einfach ist. Und wir bewegen uns mit dem Film aus der Schnelligkeit der Universal-Welt heraus und erwarten, draußen die Einfachheit zu finden, aber das Gegenteil ist der Fall: Draußen ist die Komplexität. In dem Moment, wo das einfache Haus betreten wird, fängt es an, richtig kompliziert zu werden. Kino ist dialektisch, die Antithese schwingt immer mit.

Laura muss der Missgunst im Musikhochschulmilieu entkommen, Betty muss den Suizid ihrer Tochter verarbeiten. Dabei können sie sich auf unerwartete Weise helfen.

Im Kino ist es der Traum, Geld zu haben, dafür wird die Bank überfallen, und am Ende wissen die Räuber nichts mit all dem Geld anzufangen und werden verhaftet. Der Traum des Mannes ist es, mit der Frau zusammen zu sein, und wenn sie dann ein Paar sind, haben sie nichts mehr zu reden. Aber der Weg dorthin ist interessant, interessanter als das Ziel. Die Leute und der Film möchten in die Einfachheit, und da wird es erst richtig hart. Wer sich die Einfachheit wünscht, landet in der Komplexität.

Keine angeberischen Bilder: Christian Petzold

»Miroirs No. 3«, Regie: Christian Petzold, Deutschland 2025, 86 Min., Kinostart: heute

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