Rechte führen Regie
Von Matthias Rude, Tübingen
Das vom Tübinger Oberbürgermeister und Ex-Grünen-Politiker Boris Palmer eingefädelte und von einem Medienspektakel begleitete »Streitgespräch« mit dem AfD-Spitzenkandidaten zur Landtagswahl 2026 erweist sich im Nachgang als gefundenes Fressen für rechte Netzwerke. Politisch dürfte das Wortgefecht Palmers mit Markus Frohnmaier vom 5. September ohnehin dem Rechtsaußenlager am meisten genützt haben. Auch während der Veranstaltung erstellte Videoaufnahmen kann das AfD-Umfeld jetzt nutzen, um Menschen zu identifizieren, die in der größten Halle der Stadt protestiert hatten. Teile des Materials stammen aus einem in rechten Kreisen gut bekannten Youtube-Kanal und wurden von einem AfD-Politiker erstellt.
Die Veranstaltung hatte überhaupt nur deshalb stattgefunden, weil Palmer einen merkwürdigen Deal mit der AfD eingegangen war. Im Juli wollte die Partei erstmals eine Kundgebung in der Universitätsstadt abhalten. Es waren allerdings gerade mal 35 Teilnehmer bei der Polizei angemeldet. Auf Palmers Initiative hin verzichtete die AfD auf ihre Kundgebung – statt dessen wurde mit der Podiumsdiskussion im September den Rechten eine große Bühne bereitet, mit 100 garantierten Plätzen für AfD-Teilnehmer. »Mehr Werbung für die AfD wäre nicht möglich gewesen«, prahlte Frohnmaier. Für die übrigen Plätze konnten sich nur Tübingerinnen und Tübinger anmelden.
Zwischenrufe und Sprechchöre störten das Gespräch zwischen Palmer und Frohnmaier. 30 Störer wurden aus dem Saal gebracht – begleitet vom Applaus aus den für die AfD reservierten vorderen Reihen. Die Wochenzeitung Kontext merkte dazu treffend an, dass das »wie ein AfD-Wunschkonzert« gewirkt habe: Anhänger der Partei zeigten auf Protestierende, die dann »hörig von Security und Polizei entfernt« wurden. Auch die angebliche Bürgerbeteiligung geriet zur Farce: Gleich zwei AfD-Bundestagsabgeordnete, Martin Hess und Michael Blos, nutzten die Fragerunde für eigene Auftritte. Auf die Frage, ob die Stadtverwaltung keine Vorkehrungen getroffen hatte, um eine solche Vereinnahmung der Veranstaltung durch die AfD zu verhindern, reagierte Palmer schroff: Derlei Nachfragen seien »Unterstellungen«, ließ er wissen – eine inhaltliche Antwort verweigerte er.
Auch wer in Tübingen lebt, aber nicht mehr in die Halle konnte, musste sich mit einem Livestream begnügen. Mit der Übertragung sei ein externer Dienstleister beauftragt worden, teilte die Stadtverwaltung vor Beginn der Veranstaltung mit. Hinterher stellte sich heraus, dass die AfD den Auftrag an jemanden vergeben hatte, der offen mit der Partei sympathisiert. Zusätzlich wurde die Veranstaltung auf mehreren mit der AfD assoziierten Kanälen gestreamt. Dabei wurden auch die Gesichter von Nazigegnern in die AfD-Netzwerke übertragen, unter anderem per Livestream des Youtube-Kanals »Weichreite TV«.
An dem Abend hielt allerdings nicht wie üblich der in rechten Kreisen wohlgelittene und für die AfD im Kreistag Leipzig sitzende Sebastian Weber die Kamera. Gefilmt hatte an seiner Stelle Uwe Michael Freiherr von Wangenheim, persönlicher Mitarbeiter des baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Sandro Scheer. Der Grund: Weber hatte keine Presseakkreditierung erhalten. Ohne eigenen Zugang zum Saal rief er sein Publikum dazu auf, für ihn Aufnahmen von innen zu machen. Bei einem Treffen vor der Halle habe er Wangenheim kurzerhand zu seinem »Praktikanten« erklärt, wie die Stuttgarter Zeitung am 9. September berichtete. Der Übertragung folgten mit fast 10.000 Personen kaum weniger Menschen als dem offiziellen Stream der Veranstaltung. Dabei entstanden Aufnahmen von Personen gegen ihren Willen, auf deren Grundlage deren Identitäten recherchiert und im Internet veröffentlicht wurden – Namen, Wohnorte, Berufe –, da Kameramann von Wangenheim sich bei Störaktionen von der Bühne abwandte und in die Menge filmte.
Mit der AfD sei vereinbart gewesen, dass es nur einen Livestream geben solle, erklärte die Tübinger Stadtverwaltung. Dabei seien klare Bedingungen gestellt worden. Zu sehen sein sollte »ausschließlich die Bühne«. Am Mittwoch vergangener Woche hieß es schließlich, der Oberbürgermeister sei »in Verhandlungen« mit Scheer. Am Freitag löschte Weber die Inhalte – doch rechte Konten haben die Informationen längst online verbreitet. Die Bilder wurden auch von Ex-Bild-Chef Julian Reichelt auf seiner Plattform Nius sowie von anderen Influencern und Bloggern aus dem AfD-Umfeld verwendet.
Palmer versucht das Geschehen zu relativieren und behauptet, es habe sich um eine Einzelaktion gehandelt, die nicht im Auftrag der AfD erfolgt sei. Scheer will von den Filmaufnahmen seines Mitarbeiters nichts gewusst haben. Fest steht, dass von der angekündigten »Entzauberung« der AfD, wie Palmer sie versprochen hatte, keine Rede sein kann. Im Gegenteil spielte die Veranstaltung, wie sich im nachhinein immer deutlicher zeigt, der politischen Rechten in die Hände.
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Arne Dedert/dpa09.09.2025
»Brauchen mehr Ressourcen für die pädagogische Arbeit«
- Christoph Schmidt/dpa08.09.2025
Rosen auf den Weg gestreut
- Erik-Holm Langhof/lausitznews.de/imago15.03.2023
»Damit ist es nicht getan«
Regio:
Mehr aus: Antifaschismus
-
Bewaffneter Gruppe auf der Spur
vom 17.09.2025