Vor dem Tod in den Tod
Von Ina Sembdner
Seit Wochen bombardiert und zerstört Israels Militär die wichtigste Stadt des Gazastreifens ohne Unterbrechung: In der Nacht zu Dienstag startete nun die angekündigte Bodenoffensive auf Gaza-Stadt, zunächst mit den bislang stärksten Luftangriffen des Krieges auf die palästinensische Enklave, jetzt rücken Panzer auf das Zentrum vor. »Sie zerstören Wohnhochhäuser, die Säulen der Stadt, Moscheen, Schulen und Straßen«, schrieb Abu Tamer, ein 70jähriger Mann, in einer SMS an Reuters. »Sie löschen unsere Erinnerungen aus«, so der verzweifelte Palästinenser, während er wie Tausende andere mit Eselskarren, Rikschas, schwer beladenen Fahrzeugen oder zu Fuß Richtung Süden den Vertreibungsbefehlen folgte. Rund 600.000 Menschen der einstigen Millionenmetropole harren jedoch weiter aus und können oder wollen nicht mehr fliehen. »Es ist, als würde man vor dem Tod in den Tod fliehen, deshalb gehen wir nicht weg«, sagte etwa Um Mohammed gegenüber der Agentur. Sie lebt im Vorort Sabra, der seit Tagen aus der Luft und vom Boden aus beschossen wird. »Gaza brennt«, erklärte der israelische Verteidigungsminister Israel Katz demgegenüber zufrieden auf X.
Nur wenige Stunden vor Beginn der Offensive hatte US-Außenminister Marco Rubio der israelischen Führung um Benjamin Netanjahu bei einem Besuch in Jerusalem grünes Licht gegeben. Rubio habe dem Premier mitgeteilt, dass die US-Regierung die Bodenoffensive unterstütze, aber eine schnelle Umsetzung und möglichst rasche Beendigung wünsche, wie das gut vernetzte Portal Axios unter Berufung auf zwei israelische Offizielle berichtete. Der größte Waffensteller und Finanzier Israels jedoch will offenbar nichts damit zu tun haben. So erklärte ein US-Regierungsbeamter gegenüber dem Portal, Trumps Administration werde Israel nicht aufhalten und es ihm gestatten, seine eigenen Entscheidungen zu treffen, denn es sei Netanjahus Krieg, »und er wird die Verantwortung für alles tragen, was als nächstes geschieht«.
So einfach dürfte sich Washington aus der Komplizenschaft allerdings nicht herausstehlen können. Am Dienstag erklärte eine weitere Autorität, dass es sich bei der vorgeblichen Selbstverteidigung Israels infolge des palästinensischen Überfalls am 7. Oktober 2023 mit rund 800 getöteten Zivilisten um einen Genozid handelt. Vier der fünf in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 erwähnten Tatbestände seien erfüllt, erklärt die vom UN-Menschenrechtsrat bestellte Kommission in ihrem in Genf veröffentlichten Bericht. Israel warf den Kommissionsmitgliedern antisemitische Neigungen vor und wies »die verleumderische Tirade kategorisch zurück«, so eine Erklärung des Außenministeriums. Zur Aufklärung beitragen wollte die Regierung aber offenbar nicht, auf Anfragen der Kommission habe Israel nie reagiert, erklärten deren Mitglieder.
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, fand in Genf ebenfalls deutliche Worte: »Palästinenser und Israelis schreien nach Frieden. Alle wollen, dass dies ein Ende hat, doch was wir sehen, ist eine weitere Eskalation, die völlig inakzeptabel ist.« Die einzige Antwort darauf sei: »Stoppt das Gemetzel.« Auch die Familien der noch in der Enklave festgehaltenen Geiseln forderten am Montag abend vor Netanjahus Haus erneut einen Waffenstillstand. »Unsere Angehörigen in Gaza werden auf Befehl des Premierministers von den IDF bombardiert«, prangerte Anat Angrest an, deren Sohn selbst Soldat ist und zu den vermutlich noch lebenden 20 Geiseln gehört.
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