»Das könnte eine gefährliche Entwicklung einleiten«
Interview: David Bieber
Als erstes Bundesland weist Nordrhein-Westfalen in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik, kurz PKS, Mehrfachstaatsangehörigkeiten von Tatverdächtigen und Opfern aus. Welche Absicht vermuten Sie dahinter?
Zu der Absicht, die die Landesregierung aus CDU und Bündnis 90/Die Grünen damit verfolgt, kann ich nichts sagen. Fest steht aber, dass nach bisheriger Rechtslage in Deutschland bei Menschen mit mehreren Staatsangehörigkeiten die deutsche Staatsangehörigkeit als führend angesehen wurde und daher auch nur diese in die Statistik einging. Die Aufnahme der möglichen weiteren Staatsangehörigkeiten von Deutschen macht ohnehin nur Sinn, wenn man unterstellt, dass Menschen mit ausländischen Wurzeln eher kriminell sind. Das ist aber nach allen Erkenntnissen der Kriminalwissenschaften nicht der Fall. Vielmehr sind danach andere Merkmale wie Geschlecht, Alter und sozialer Status eher von Belang.
Welche Relevanz hat dann eine mehrfache Staatsangehörigkeit?
Will man das oben aufgeführte Unterscheidungskriterium tatsächlich als relevant ansehen, so würde sich ohnehin die Frage stellen, ob man nicht zum Beispiel bei Kurden, die ja keinen eigenen Staat haben, nach der Volkszugehörigkeit fragen müsste. Das zeigt, in welches gefährliche Fahrwasser uns ein solches Denken angesichts unserer Geschichte führt.
Sollen durch diese neue Nennung in der PKS womöglich Menschen mit mehr als nur der deutschen Staatsbürgerschaft quasi als halbe »kriminelle Ausländer« markiert werden?
Auch hierzu kann ich nur sagen, dass ich beim besten Willen nicht weiß, was die Landesregierung zu diesem Schritt getrieben hat. Fakt ist aber, dass durch diese Maßnahme ein Schritt dahingehend unternommen wird, eine Staatsangehörigkeit zweiter Klasse einzuführen. Und diese Veränderung der Statistik bietet allen eine Grundlage, die unsere Gesellschaft spalten wollen.
»Wenn wir nicht alle Staatsangehörigkeiten erfassen, tappen wir im dunkeln«, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul von der CDU zu der Erweiterung der Statistik. Schürt er damit Ressentiments oder gar »Hass und Hetze«?
Zumindest bietet die Erfassung weiterer Staatsangehörigkeiten in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik allen, die Hass und Hetze betreiben möchten, eine Grundlage.
Reul behauptet, dass nur so die Polizei in die Lage versetzt werde, Gefahren frühzeitig zu erkennen und Straftaten wirksam zu bekämpfen. Wie kommt der Minister darauf?
Wie Herr Reul darauf kommt, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Ich bezweifle aber, dass die Erhebung der weiteren Staatsangehörigkeiten überhaupt in irgendeiner Hinsicht zu weiteren Erkenntnissen im Hinblick auf die Bekämpfung der Kriminalität führt.
Was bringt überdies generell die Nennung von Staatsangehörigkeiten in der Statistik der Polizei? Wie hat das die Wahrnehmung von Kriminalität in der Öffentlichkeit verändert?
Ich kann keinen Erkenntnisgewinn dieser »Neuerung« erkennen, ich fürchte aber, dass durch diese Maßnahme der allgemeine Fokus der Öffentlichkeit auf das Kriterium der ausländischen Staatsangehörigkeit gelenkt wird und wir dadurch erneut leider eine gefährliche Entwicklung einleiten.
Ist es aus Ihrer Perspektive noch zeitgemäß, wenn man sieht, wie divers die bundesdeutsche Gesellschaft geworden ist und dass immer noch Menschen mit »rein deutscher« Familie klar die Mehrheit an Straftaten ausübt?
Ja, da haben Sie recht. Da die Annahme, die Straftäterinnen und Straftäter würden sich nach Herkunft oder Staatsangehörigkeit unterscheiden, nicht zutreffend ist, kann diese Kategorie im Grunde komplett entfallen.
Joachim Kerth-Zelter ist Mitglied der Vereinigung Demokratischer Jurist:innen e. V. und war bis 2023 deren Bundesvorsitzender
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