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Aus: Ausgabe vom 11.09.2025, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Vor dem nächsten Bundeskongress

Zwei verlorene Jahre

Mitgliederverlust und schwindende tarifpolitische Bedeutung. Düstere Zwischenbilanz für Verdi-Handel seit letztem Bundeskongress. Neuausrichtung ist nötig
Von Orhan Akman
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Noch nicht schlagkräftig genug: Streikbewegungen im Handel (Potsdam, 16.5.2023)

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) kommt alle vier Jahre zu ihrem Bundeskongress zusammen. Es sind Großevents, die neben viel Schaulaufen und Reden von Politikern (fast) aller Couleur auch Abstimmungsmarathons über Hunderte Anträge und schließlich die Wahlen des künftigen Bundesvorstandes beinhalten. Obwohl sie – wie der letzte im Herbst 2023 – sechs Tage dauern, bleibt die Zeit für inhaltliche Debatten oft beschränkt.

Mitglieder und Betriebe in den Fokus

Die Organisation ist mit Bezirken, Landesbezirken und Bundesverwaltung dreigliedrig aufgebaut. Zudem ist Verdi in Fachbereiche, Ebenen und Personengruppen aufgeteilt. Diese komplizierte Struktur geht zurück auf den Verschmelzungsprozess, bei dem sich 2001 fünf Einzelgewerkschaften zur neuen Verdi zusammenschlossen. Die Mitgliederverluste der vergangenen 24 Jahre haben ihre Ursache auch in dieser Arbeitsorganisation.

Um die negative Mitgliederentwicklung umzukehren, müssen Personal, Budget und Ressourcen von der Bundes- und Landesebene meines Erachtens auf das Nötigste reduziert und auf der bezirklichen Ebene eingesetzt werden. Denn dort findet die Arbeit statt, in den Betrieben. Für den Bereich der Privatwirtschaft sollten wir uns fragen, ob die Landesebene in der bisherigen Form überhaupt noch sinnvoll ist – im Bereich des öffentlichen Dienstes mag das punktuell anders aussehen.

Die Verdi-Bundeskongresse stehen jeweils am Ende eines langen Prozesses, der etwa anderthalb Jahre vor dem Gewerkschaftstag beginnt. Es fängt an mit Mitgliederversammlungen auf der untersten – meist der Bezirksebene – in allen Fachgruppen und Fachbereichen, wo dann die Delegierten für die nächste Ebene gewählt werden. Insgesamt sind es, wie Verdi im Transparenzbericht schreibt, mehr als 12.000 Gremien, in denen sich »jedes Mitglied engagieren« könne.

Basisdemokratie als Pflichtprogramm

Was vom Prinzip her als basisdemokratisches Verfahren zur Kontrolle der obersten Ebenen gedacht ist, gerät in der Praxis meist zu einem Pflichtprogramm, das sowohl haupt- als auch ehrenamtliche Verdi-Aktive mehr frustriert als motiviert. Zumal die ersten Versammlungen praktisch unter Ausschluss der gewerkschaftseigenen Öffentlichkeit stattfinden. Viele Mitglieder, die nicht ohnehin schon in Vorständen und Gremien aktiv sind, registrieren den Wahlprozess oft erst zu einem Zeitpunkt, an dem die ersten Versammlungen schon abgeschlossen sind. Auf die Frage, wie sie sich denn einbringen können, bekommen sie oft zu hören, dass sie zu spät dran sind.

Das führt letztlich dazu, dass die immer gleichen Multifunktionäre auch diejenigen sind, die in Bezirks-, Landesbezirks-, Personengruppen-, Fachbereichs-, Fachgruppenkonferenzen usw. zusammenkommen. So sichert man – gewollt oder ungewollt – Mehrheiten im Sinne der bisherigen Aktiven.

Düstere Halbzeitbilanz

Zwei Jahre nach dem letzten Bundeskongress ist Halbzeit, und die Vorbereitungen für die ersten Versammlungen und Organisationswahlen laufen bereits wieder an. Für Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die sich kritisch mit den bisherigen Entwicklungen auseinandersetzen, ist deshalb jetzt der Zeitpunkt, etwaige Strategien mit Blick auf 2027 zu diskutieren und zu entwickeln.

Mein Beitrag ist als Teil dieser Diskussion gedacht. Ich beschränke mich dabei auf den Fachbereich Handel, denn das ist die Branche, die ich genau kenne. Bis ich vom Verdi-Bundesvorstand 2022 kaltgestellt wurde, war ich als Bundesfachgruppenleiter für den Einzel- und Versandhandel zuständig. An meiner fachlichen Arbeit habe ich – abgesehen von Diskussionen über Detailfragen, die es überall gibt – nie grundsätzliche Kritik gehört. Trotzdem wurde ich aus dem Amt gedrängt, nachdem ich angekündigt hatte, beim Bundeskongress 2023 für den Bundesvorstand kandidieren zu wollen.

Gewählt als neues Bundesvorstandsmitglied für den Handel wurde auf dem Bundeskongress Silke Zimmer, die bis dahin als Landesfachbereichsleiterin Verdi-Handel in Nordrhein-Westfalen geleitet hatte. Meine Kandidatur für diese Position wurde verhindert, so dass ich mich auf dem Kongress 2023 für eine andere Position im Bundesvorstand bewerben musste. Ich wurde zwar nicht gewählt, aber das erzielte Stimmergebnis zeigte deutlich die weitverbreitete Unzufriedenheit mit dem Kurs unserer Gewerkschaft auf. Eine Bilanz der Arbeit des Bundesfachbereichs Handel seit dem letzten Bundeskongress ist also letztlich auch eine politisch-inhaltliche Auseinandersetzung mit Silke Zimmer als verantwortlicher Funktionärin.

Sehenden Auges in Tarifniederlage

Um es vorwegzunehmen: Es ist auch seit dem Bundeskongress 2023 nicht gelungen, den Fachbereich wieder auf die Erfolgsspur zu bringen. Die vor und nach dem Kongress monatelang laufenden Tarifverhandlungen für den Handel zogen sich quälend lange hin, bis es im Mai 2024 – nach über einem Jahr Verhandlungen – einen Abschluss gab.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Tarifabschluss nicht den ursprünglichen Forderungen entspricht. In diesem Falle war aber auffällig, dass der Tarifabschluss lediglich Entgelterhöhungen fixierte, die der Unternehmerverband HDE seinen Mitgliedern schon Monate zuvor in exakt dieser Höhe empfohlen hatte. Damals hatte man diese Empfehlungen als Reallohnverlust gebrandmarkt. Monate später und unter Inkaufnahme von fünf Nullmonaten – also ohne Entgelterhöhung seit dem Auslaufen des vorherigen Tarifvertrages – feierte Verdi sie und den Tarifvertrag mit einer Laufzeit von 36 Monaten als »großartigen Erfolg«.

Niederlagen kommen vor, auch in Tarifrunden. Wenn aber schon zu Beginn deutlich wird, dass die Kampfkraft nicht ausreicht, um tatsächlich spürbaren Druck auf die Unternehmen auszuüben, muss man die Taktik anpassen. Wenn es kaum gelingt, auch große Einzelhandelsfilialen so zu bestreiken, dass der Verkauf sichtbar gestört wird, läuft etwas verkehrt. Ich habe in dieser Zeit mehrfach erlebt, dass zum Beispiel beim großen Galeria-Kaufhaus am Berliner Alexanderplatz von der Geschäftsführung ausgehängte Flyer auf mögliche Einschränkungen infolge des Streiks hinwiesen. Streikposten von Verdi? Fehlanzeige.

Normalerweise sind Tarifrunden Zeiten, in denen besonders viele Mitglieder geworben werden können. Im Handel hat das in dieser Tarifrunde nicht funktioniert – das Branchenblatt Lebensmittelzeitung meldete Anfang 2025, dass der Fachbereich im Vorjahr rund fünf Prozent seiner Mitglieder verloren habe. Und das, nachdem auch im Vorjahr – 2023 – bereits entgegen dem Trend der Gesamtorganisation Medienberichten zufolge unter dem Strich Mitgliederverluste zu verzeichnen waren.

Verdi-Handel vor dem Kollaps

Auf diese Weise wird Verdi-Handel in der Tarifpolitik zunehmend zu einem »zahnlosen Tiger«. Es gelingt nach wie vor nicht, die Tarifbindung zu verteidigen oder auszubauen. Große Onlinekonzerne wie Amazon, JD.com, Zalando oder andere Onlinelieferdienste sind immer noch tariffreie Zonen. Die Warenhauskette Galeria, ehemals Galeria Karstadt-Kaufhof (GKK), hat sich ebenfalls aus der Tarifbindung verabschiedet. Dabei war GKK mal eine der gewerkschaftlich gut organisierten Hochburgen im Handel!

Der Anteil der Beschäftigten, die im Einzelhandel in tarifgebundenen Unternehmen arbeiten, ist im Jahr 2023 auf 22,9 Prozent gesunken. Auch in ganzen Teilbranchen, wie beispielsweise Drogerien, Baumärkten und Möbelhandel kommt Verdi tarifpolitisch gar nicht vor. Im Groß- und Außenhandel waren 2024 nur noch 15 Prozent der Betriebe tarifgebunden.

Wo man tarifpolitisch nichts mehr zu melden hat, ist man für die Beschäftigten auch kaum noch sichtbar. Das wirkt sich auf die betriebliche Mitbestimmung aus: Wenn es überhaupt Betriebsräte gibt, spielt die Gewerkschaft dort oft nur noch eine Außenseiterrolle. Viele Betriebsräte verstehen umgekehrt das Verhalten von Verdi nicht und kritisieren, dass Nachfragen und Hinweise nicht ernst genommen werden.

In der aktuellen Ausgabe des Verdi-Magazins Handel Nr. 02/2025 wurde informiert, dass rund 12.000 Kolleginnen und Kollegen an einer Beschäftigtenbefragung teilgenommen hätten, die von Ende April bis Ende Juni 2025 stattgefunden habe. »Eine sehr gute Beteiligung«, findet Bundesvorstandsmitglied Zimmer und ergänzt: »So bekommen wir ein superrepräsentatives Ergebnis für unsere Branchen.«

Befragung ist keine Beteiligung

Tausende Kolleginnen und Kollegen dazu zu mobilisieren, Fragen zu Entlohnung, Arbeitszeiten, Ladenöffnungszeiten, Arbeitsverdichtung, Führungsqualitäten und Zukunftsperspektiven zu beantworten, ist sicherlich erst einmal eine Leistung. Allerdings arbeiten im Handel nach Angaben des Statistischen Bundesamtes aktuell 6,4 Millionen Menschen. Hinzukommt: Die Teilnahme war online ohne Registrierung möglich, der Link zur Umfrage wurde Ende April sogar per Pressemitteilung hinausposaunt. Journalisten, die ausprobierten, ob sie selbst an der Umfrage hätten teilnehmen können, waren überrascht, dass das ohne Probleme möglich gewesen wäre.

Trotzdem besteht natürlich kein Zweifel daran, dass »die Arbeitsbedingungen im Handel insgesamt als ›schlecht‹ eingestuft werden können«, wie Zimmer im Handel-Magazin mit einem vorläufigen Fazit zitiert wird. Man werde die Ergebnisse der Befragung »ab Herbst« auswerten. Und dann? Was Verdi für bessere Arbeitsbedingungen tun will, bleibt im Handel offen. Dabei ist längst klar, dass eine strategische Neuausrichtung notwendig ist, will man »gute Arbeit« im Handel tatsächlich durchsetzen.

Weil man die Beschäftigten nach ihrer Meinung fragt, hat man sie noch nicht beteiligt. Befragungen, die Verdi zunehmend inflationär einsetzt, sind zunächst nur ein Informationsinstrument. Was aus den gewonnenen Informationen gemacht wird, steht auf einem anderen Blatt. Mit der Befragung wurden bei den Teilnehmenden Erwartungen geweckt. Wenn sich aus den Ergebnissen kein für die Beschäftigten sichtbarer Kurswechsel ergibt, besteht die Gefahr, dass dies zu weiterer Enttäuschung unserer Mitglieder führen wird. Dabei öffnet die lange Laufzeit des Tarifvertrages von 36 Monaten ja einen Spielraum. Einige Vorschläge für mögliche Reformen liegen längst auf dem Tisch, wurden bislang aber meist beiseite gewischt. Auch deshalb muss die Halbzeitbilanz eher düster ausfallen.

Diesen Artikel hat Akman unentgeltlich als Gewerkschaftsmitglied verfasst.

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