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Aus: Ausgabe vom 11.09.2025, Seite 4 / Inland
Kriegsverbrechen in Gaza

Pflicht zur Strafverfolgung

Kriegsverbrechen in Gaza: Deutscher in Israels Armee soll Unbewaffnete erschossen haben
Von Kristian Stemmler
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An Israels Vernichtungskrieg sind Soldaten aus vielen Ländern beteiligt (Gaza, 29.7.2025)

Der Deutsche Daniel G., der als Scharfschütze in der israelischen Armee dient, soll in Gaza Kriegsverbrechen begangen haben. Die Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat deshalb bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige gegen den Münchner erstattet, wie sie am Mittwoch mitteilte. Zuvor hatten das Magazin Spiegel, das ZDF, der britische Guardian, die belgische Zeitung De Tijd sowie das Netzwerk »Arab Reporters for Investigative Journalism« Recherchen veröffentlicht, denen zufolge G. mutmaßlich Zivilisten erschossen hat. Der Bundesanwalt ist auch für Verbrechen deutscher Staatsbürger zuständig, wenn diese im Ausland begangen werden.

Das ECCHR fordert daher – gemeinsam mit den palästinensischen Organisationen Al Mezan Center for Human Rights, Al-Haq und dem Palestinian Center for Human Rights – von der Karlsruher Behörde »die Einleitung völkerstrafrechtlicher Ermittlungen«. Und zwar wegen des Verdachts »der Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Der Völkerrechtler Christoph Safferling sieht die Bundesanwaltschaft ebenfalls in der Pflicht: »Es geht darum, Kriegsverbrecher zu verfolgen, egal auf welcher Seite sie kämpfen«, sagte er dem Spiegel.

Am Dienstag waren die Ergebnisse des Rechercheverbunds zeitgleich bei Spiegel online und auf der Homepage des ZDF veröffentlicht worden. Demnach wurde Daniel G., heute 25 Jahre alt, in Deutschland geboren und besuchte in München die Schule. Nach dem Abitur trat er den israelischen Streitkräften bei, ließ sich zum Scharfschützen ausbilden, wurde dem 202. Fallschirmjägerbataillon zugeteilt und dort laut Spiegel vermutlich der »Chetz«-Kompanie, in der Soldaten aus aller Welt dienen.

Das Magazin berichtet von einem »brutalen Vorgehen« der Einheit, der G. angehörte. Angehörige der Scharfschützentruppe hätten »mutmaßlich unbewaffnete Menschen erschossen und damit wohl Kriegsverbrechen begangen«. Belegt sei dies durch Videos, Fotos, digitale Analysen sowie Interviews mit Dutzenden Experten, früheren Soldaten und Völkerrechtlern. Besondere Bedeutung hat dabei ein gefilmtes Interview, das Anfang Oktober 2024 vom palästinensischen Journalisten Younis Tirawi auf der Plattform X veröffentlicht wurde.

Darin schilderte ein als »Sergeant D.« bezeichneter Scharfschütze aus Chicago seine Zeit im 202. Fallschirmjägerbataillon. Tirawi und sein israelischer Kollege, dessen Namen nicht genannt wird, hatten ihm gesagt, er wirke an einer Dokumentation über »Helden« des israelischen Militärs mit, so dass der US-Amerikaner offen sprach. Er habe mit Daniel G. ein Scharfschützen-Duo gebildet. Ein solches paarweises Vorgehen eines Beobachters und eines Schützen ist bei Armeen weltweit üblich. Für mindestens 100 bis 120 Tote seien sie verantwortlich, erklärte »Sergeant D.« prahlerisch: »Was extrem beeindruckend ist.«

Nach den Recherchen hatten »Sergeant D.« und G. im November 2023 in Gaza-Stadt in einem Gebäude am Barcelona-Park Stellung bezogen und von dort aus offenbar mehrere unbewaffnete Palästinenser getötet. Videoclips und Wärmebildaufnahmen zeigen die »Eliminierungen«, die der US-amerikanische Soldat im Interview detailliert beschrieb. Dem Rechercheteam gelang es, die Opfer zu identifizieren. So erschoss »Sergeant D.« unter anderem einen 19jährigen, der seinen regungslos am Boden liegenden Bruder retten wollte. Zwei weitere Tötungen schrieb er Daniel G. zu, seinem »Zemed« (hebräisch: Partner). Der Deutsche habe dabei den Palästinenser Mohammed Farid Doghmosh erschossen, der im Zivilschutz gearbeitet haben soll.

In einem Interview mit dem Spiegel ordnete der Völkerrechtler Tom Dannenbaum von der Stanford University die Recherchen ein. Er habe Videos der Vorfälle gesehen, erklärte er. Diese zeigten keine Hinweise darauf, dass die Getöteten bewaffnet oder an Feindseligkeiten beteiligt gewesen seien. »Einiges deutet auf ein Kriegsverbrechen hin«, sagte Dannenbaum. Bei einer Tatbeteiligung eines deutschen Staatsbürgers seien die deutschen Behörden »laut den Genfer Konventionen und gemäß Völkergewohnheitsrecht« verpflichtet, Ermittlungen einzuleiten. Nach Spiegel-Informationen liegt gegen Daniel G. bereits mindestens eine weitere Strafanzeige vor. Die Münchner Staatsanwaltschaft hatte sie schon im Januar 2025 an die Bundesanwaltschaft weitergeleitet. Diese stellte das Verfahren jedoch kurz darauf ein – »mangels hinreichenden Anfangsverdachts«.

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