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Aus: Ausgabe vom 10.09.2025, Seite 15 / Antifaschismus
»Wege des Widerstandes«

Nein heißt nein

Wien: Rundgang durch Gedenkstätte Steinhof erinnert an Opfer der »Euthanasie«-Verbrechen
Von Barbara Eder, Wien
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Im Rahmen der Aktion »Wege des Widerstandes« wurde der Pfad auf dem Gelände der Gedenkstätte nach dem 1989 verstorbenen Karl Scholda benannt (Wien, 6.9.2025)

Seit Mai dieses Jahres ist der Weg zu Pavillon V am Wiener Otto-Wagner-Areal mit einem Wegweiser versehen. Im Rahmen der Aktion »Wege des Widerstandes« des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) erhielt der Pfad den Namen Karl-Scholda-Weg. Scholda war einer von Tausenden vor Ort Internierten, die Nazi-Psychiatrie belegte ihn mit dem Stigma »asozial«. Laut »Patientenakte« verweigerte er die geforderte Einwilligung zur Zwangssterilisierung: »Ich habe gesagt, das will ich nicht, ich lass’ das nicht mit mir machen.«

In dieser lapidaren Entgegnung zeigt sich die Radikalität von Scholdas Widerstand – ein eindrucksvolles Zeugnis für den Kampf um körperliche Selbstbestimmung. Im Nachkriegsösterreich fand es keine Anerkennung: Erstmals 1947 – und nach Ablehnung 1949 – beantragte Scholda einen Ausweis nach dem Opferfürsorgegesetz, das Grundlage für die Fürsorgeleistung ist. In der Begründung hieß es: Eine Schädigung sei nicht feststellbar, es handle sich lediglich um eine Operationsnarbe. Dass Scholda infolge der Zwangssterilisierung keine Kinder bekommen konnte, wertete der Staat nicht als Unrecht.

Am Sonnabend nachmittag führte Nici Mairhofer vom DÖW vorbei am Karl-Scholda-Weg hinein in Pavillon V. Dieser beherbergt die Dauerausstellung »Der Krieg gegen die ›Minderwertigen‹. Zur Geschichte der NS-Medizin in Wien« und ist auch als »Gedenkstätte Steinhof« bekannt. Hinter den Jugendstilfassaden erzählen rund 30 Schautafeln von einem tabuisierten Kapitel österreichischer Geschichte: den »Euthanasie«-Verbrechen der Nazis am ehemaligen Otto-Wagner-Spital. Mit der Annexion Österreichs 1938 wurde die vormalige Heil- und Pflegeanstalt zu einem Ort der systematischen Tötungen. Von 1940 bis 1945 fungierte Pavillon 15, ein Teil des »Spiegelgrunds«, als Schauplatz von Medizinverbrechen. Unter den Internierten befanden sich Hunderte Kinder und Jugendliche, die als »bildungsunfähig« oder »verhaltensgestört« galten. Sie wurden misshandelt, medizinischen Experimenten ausgesetzt und ermordet. Ärzte stellten Diagnosen wie »unheilbar« aus und unterschrieben damit Todesurteile. Pflegekräfte setzten sie um, indem sie »Hungerkost« verabreichten oder Medikamente überdosierten.

Ab 1940 wurden rund 3.500 Menschen im Rahmen der sogenannten Aktion T4 aus dem Otto-Wagner-Spital nach Schloss Hartheim bei Linz deportiert. Mehr als 30.000 wurden dort ermordet. Eltern wurden mit gefälschten Angaben zu Todesursachen getäuscht. Die Täter schrieben Berichte, setzten Spritzen, stellten Sterbeurkunden aus. Nach 1945 blieben viele von ihnen unbehelligt, nur wenige Verfahren endeten mit Verurteilungen. Heinrich Gross, Arzt in der »Kinderfachabteilung« am Spiegelgrund, war maßgeblich verantwortlich für Zwangssterilisationen, »Experimente« und Deportationen. Nach 1945 setzte er seine Karriere als psychiatrischer Gutachter nahezu bruchlos fort. Opfer wie Karl Scholda mussten um Anerkennung kämpfen.

Während der Führung betonte Mairhofer, wie bedrückend aktuell die Ausstellung ist: Wer heute von »Sozialmissbrauch« oder »unproduktiven Existenzen« spreche, bewege sich in gefährlicher Nähe zum Jargon der Nazis. Doch es gab auch Widerstand gegen die »Euthanasie«. In Graz verteilten Mitglieder der illegalisierten KPÖ Flugblätter gegen die Ermordung der Steinhof-Patienten. Die britische Royal Air Force warf im September 1941 Flugblätter ab. Anna Wödl, Mutter eines behinderten Sohnes in der Anstalt Gugging, kämpfte entschlossen, aber erfolglos um das Leben ihres Kindes. Sie drang bis in die Reichskanzlei sowie ins Reichsinnenministerium in Berlin vor und motivierte zahlreiche Angehörige zu Protestschreiben.

Im Pavillon V beendete die Gruppe den Rundgang. Noch einmal wurde Karl Scholda zitiert: »Ich lass’ das nicht mit mir machen«. Die Akzeptanz seines »Neins« bleibt Prüfstein für eine antifaschistische Gegenwart.

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