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Aus: Ausgabe vom 09.09.2025, Seite 11 / Feuilleton
Comic

Die Illusion von Größe

Neue Mangas: Suehiro Maruos »Die seltsame Geschichte der Panorama-Insel« und »No longer human« von Junji Ito
Von Marc Hieronimus
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Ruiniertes Leben: Junji Itos »No longer human«

Die typische Erfahrung bei der Begegnung mit einer anderen Kultur: Das Neue erscheint in seiner Fremdheit homogen. Wer nie Stromgitarrenmusik gehört hat, wird größte Mühe haben, Heavy-, Doom-, Thrash-, ­Death- Etcetera-Metal auseinanderzuhalten und von Hard Rock, Hardcore, Blackgaze usw. zu trennen, weil die jeweiligen Nuancen gering sind und die Unterschiede zu indischem Raga oder barocker Kammermusik einen unüberwindlichen Abgrund darstellen. Der erste Eindruck wird zum Vorurteil: Beim Stichwort E-Gitarre erwartet man automatisch langhaarige Schreihälse und Satanisten, weil man »so was« ja schon kennt. Dass diese Stile eine jahrzehntelange Geschichte haben, verringert die Fremdheit ebenso wenig wie ihr kommerzieller Erfolg oder die Existenz von Fachgeschäften auf allen Kontinenten, solange man sich nicht näher damit beschäftigt.

Nicht anders als der hypothetischen Liebhaberin von Weltmusik oder alter Musik mit ihren Scheuklappen geht es vielen Comiclesern beim Manga. Japanische Comics, das sind doch diese endlosen, im Schnellverfahren produzierten Serien mit völlig übertriebenen Bewegungslinien, hektischer Seitenaufteilung, unverständlichen Zeichencodes und geschlechtslosen oder hypersexualisierten glupschäugigen Püppchen als austauschbaren Protagonisten, und dann muss man das Ganze auch noch rückwärts lesen. Zwei Neuerscheinungen können, wo nötig, derartige Vorbehalte eindrucksvoll zerstreuen. »Die seltsame Geschichte der Panorama-Insel« basiert auf der gleichnamigen, stark von E. A. Poe inspirierten Novelle von Edogawa Ranpo, der als Begründer des japanischen Kriminalromans gilt. Der erfolglose Schriftsteller Hirosuke Hitomi schlüpft in die Rolle des ihm zum Verwechseln ähnlichen Millionärs Genzaburo Komoda, der gerade verstorben ist, und nutzt dessen Reichtum, um auf einer Insel sein erotisch verzaubertes Privatparadies zu errichten. Dort erschafft der betrügerische Held durch perspektivische Täuschung die Illusion von Größe, lässt Felder anlegen, engagiert Artisten für permanente Unterhaltung. Dem Zeichner Suehiro Maruo gelingt es, geometrische Parklandschaften, Zirkus-, Liebes- und Naturschauspiele ebenso darzustellen wie die stummen Zweifel der Angehörigen Komodas an der Echtheit des Wiederauferstandenen. Sein Zeichenstrich ist geradezu manisch präzise und in Schattierungen so fein ziseliert, dass das bloße Auge Schraffur und Punktraster oft nicht unterscheiden kann.

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Im Privatparadies: Suehiro Maruos »Die seltsame Geschichte der Panorama-Insel«

Auch Junji Ito liebt mikroskopisch kleine Details und mischt seine eigenen Muster geschickt mit denen aus dem Computer. Er gilt als Meister des Horrorcomics und hat bei Carlsen mehr als ein Dutzend voluminöse Werke im Programm, in denen es um übernatürliche Fähigkeiten und Phänomene geht. »No longer human« ist vergleichsweise wenig fantastisch. Osamu Dazais autobiographisch gefärbte Romanvorlage »Mingen Shikkaku«, auf Deutsch »Gezeichnet«, spielt in den 1930er Jahren, doch die Militarisierung und der nahende Krieg spielen keine Rolle. Beide Geschichten sind wie aus der Zeit gefallen. Der gezeichnete Antiheld Yozo Oba sieht gut aus, ist beliebt bei den Frauen, kommt aus wohlhabendem Hause und hat von Kindesbeinen an die Gabe, Menschen zum Lachen zu bringen, obwohl ihm selbst gar nicht danach ist. Vielleicht liegt es an den bösen Geistern, die er in seinem Elternhaus manchmal zu sehen meint, dass sein Leben eine einzige Aneinanderreihung von Fehltritten und tragischen Unfällen ist. Ein unansehnlicher Freund verliebt sich in Obas Cousine Setchan, er macht ihm Mut, das Scheusal wird zurückgewiesen, schlitzt sich die Kehle auf und scheint später als Obas Sohn wiederzukehren. Oba hat ein Verhältnis mit Setchan, aber auch mit ihrer Schwester: Die eine sticht die andere ab. Ständig ruiniert er Leben, versehentlich, aus Eifersucht, aus Feigheit, mit Alkohol und Drogen nicht zuletzt sein eigenes. Am Ende erzählt er Osamu Dazai, also dem Autor, seine Geschichte, und der ertränkt sich anschließend im Comic, im »Kultklassiker«-Roman und in Wirklichkeit mit seiner Geliebten im Tamagawa-Kanal in Mitaka/Tokio. Düster.

Suehiro Maruo: Die seltsame Geschichte der Panorama-Insel. Aus dem Japanischen von Claudia Peter. Reprodukt-Verlag, Berlin 2025, 276 Seiten, 24 Euro

Junji Ito: No longer human – Der entfremdete Mensch. Aus dem Japanischen von Jens Ossa. Carlsen-Verlag, Hamburg 2024, 624 Seiten, 32 Euro

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