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Aus: Ausgabe vom 09.09.2025, Seite 7 / Ausland
Nigeria

Massaker an Rückkehrern

Nigeria: Islamisten von Boko Haram überfallen Dorfgemeinschaft. Mehr als 60 Tote. Streitkräfte fliegen Luftangriffe, bleiben aber machtlos gegenüber Attacken
Von Christian Selz
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Hoffen auf den Gouverneur: Die Einwohner von Darul Jamal nach dem tödlichen Überfall am Sonnabend

Erst im Juli waren die Bewohner von Darul Jamal im Bundesstaat Borno im Nordosten Nigerias in ihr Dorf zurückgekehrt. Zuvor hatten sie jahrelang in einem Flüchtlingslager auf dem Gelände einer Schule in der nahegelegenen Kreisstadt Bama gelebt, dessen Schließung die Regierung in diesem Jahr schließlich verfügt hatte. Ein Militärposten sollte für die Sicherheit der Dorfgemeinde sorgen. Doch am Freitag abend fielen Kämpfer der islamistischen Miliz Boko Haram auf Motorrädern dennoch in das Dorf ein.

»Sie haben die Soldaten überwältigt, die dann mit uns nach Bama geflohen sind«, berichtete ein Dorfbewohner der Nachrichtenagentur Reuters. Der Mann kritisierte zudem, dass die Militärführung trotz Warnungen aus der Dorfgemeinschaft keine Verstärkung geschickt habe. Schon drei Tage vor der Attacke hätten Gemeindevertreter demnach beobachtet, dass Boko-Haram-Kämpfer sich in der Umgebung gesammelt hatten. Laut dem Gouverneur des Bundesstaats Borno, Babagana Zulum, waren auch fünf Soldaten unter den nach offiziellen Angaben insgesamt 63 Toten. Einem Bericht der Nachrichtenagentur AFP zufolge bestätigte eine Quelle innerhalb des Sicherheitsapparats diese Zahlen.

Das traditionelle Oberhaupt der Dorfgemeinde, das laut einem Reuters-Bericht um Anonymität bat, erklärte, dass bis Sonnabend morgen gar 70 Leichen gefunden worden seien und weitere Einwohner noch vermisst würden. Die Angreifer, die aus halbautomatischen Waffen gefeuert hatten, seien »von Haus zu Haus gegangen« und hätten »die Männer getötet und die Frauen zurückgelassen«, erklärte das Gemeindeoberhaupt. »Nahezu jeder Haushalt ist betroffen.« Unter den Toten seien auch sieben Fahrer und sechs Arbeiter aus Bama sowie aus der Bundesstaatshauptstadt Maiduguri, die sich für Wiederaufbauarbeiten im Dorf aufhielten. 20 Häuser und zehn Busse wurden bei der Attacke zerstört.

Nach Angaben ihres Sprechers Ehimen Ejodame, den die BBC zitierte, flog die nigerianische Luftwaffe im Anschluss an den Überfall auf Darul Jamal drei Angriffe auf abziehende Milizionäre. Dabei seien 30 Boko-Haram-Kämpfer getötet worden. Wie Gouverneur Zulum am Sonnabend AFP sagte, solle zudem eine neu aufgestellte Einheit namens »Forest Guards« das Sicherheitspersonal in der umkämpften Region verstärken. Der Politiker rief die Bewohner von Darul Jamal auf, nicht erneut zu fliehen, gestand aber zugleich ein: »Die Truppenstärke der nigerianischen Armee reicht nicht aus, um die Situation unter Kontrolle zu bringen.« Zulum hatte bereits im April nach einer Serie von Attacken vor einem Wiedererstarken der Boko Haram gewarnt.

Die Miliz kämpft bereits seit 2009 im Nordosten Nigerias. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind ihren Attacken bisher etwa 35.000 Menschen zum Opfer gefallen, andere Quellen schätzen die Todeszahlen auf über 40.000. Mehr als zwei Millionen Menschen sind vor der Bedrohung durch die Islamisten geflohen. 2021, nach dem Tod ihres Anführers Abubakar Shekau, hatte sich Boko Haram gespalten. Eine abtrünnige Gruppe schloss sich der Miliz »Islamischer Staat« an und nennt sich seitdem »Islamic State West Africa Province« (ISWAP). Der andere Flügel, der meist noch immer als Boko Haram bezeichnet wird, tritt offiziell auch unter dem Namen Jama’atu Ahlis Sunna Lidda’awat wal-Jihad (JAS) in Erscheinung. Während der ISWAP zuletzt vor allem Angriffe auf Militärposten zur Last gelegt wurden, attackierte die JAS verstärkt zivile Ziele.

»Wenn die JAS angreift und viele Menschen tötet, wie sie es in Bama gemacht hat, dann verdächtigt sie die Opfer meist, für die rivalisierende ISWAP oder für das Militär spioniert zu haben«, erklärte der Boko-Haram-Experte Taiwo Adebayo vom südafrikanischen Institute for Security Studies nun der Nachrichtenagentur AP. Die Attacke vom Freitag abend hat für den nigerianischen Staat daher auch strategisch eine negative Wirkung, weil sie dazu führen kann, dass Dorfgemeinschaften weniger Vertrauen in die Streitkräfte des Landes setzen. Der Angriff signalisiert aber nicht nur eine fortgesetzte Ohnmacht gegen Attacken islamistischer Milizen im Nordosten des Landes, sondern behindert auch die Absicht der Regierung, Flüchtlingslager aufzulösen und Gemeinschaften in ihre Dörfer zurückzuführen. Zumal der Terror im Nordosten des Landes derzeit nicht die einzige Bedrohung für die öffentliche Sicherheit in Nigeria ist: Wie der staatliche Auslandssender Deutsche Welle am Sonnabend berichtete, haben unbekannte Bewaffnete am Freitag auch im südnigerianischen Bundesstaat Edo einen von bewaffneten Einsatzkräften bewachten Konvoi mit chinesischen Arbeitern einer Zementfabrik überfallen. Dabei wurden acht Wachleute getötet und fünf Arbeiter entführt, von denen vier zwischenzeitlich wieder befreit werden konnten.

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