Gegründet 1947 Dienstag, 9. September 2025, Nr. 209
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 08.09.2025, Seite 14 / Leserbriefe

Aus Leserbriefen an die Redaktion

jW_Leserbriefe_Standart.jpg

Strategie oder Zuckungen

Zu jW vom 4.9.: »Beschuss ohne Beweise«

Der Beginn des Vietnamkriegs lässt grüßen! Die USA missbrauchen die Monroe-Doktrin erneut – und zwar in einer grotesken Verdrehung ihres ursprünglichen Sinns. Statt Lateinamerika vor europäischen Kolonialmächten zu schützen, machen sie den Kontinent seit Jahrzehnten zu ihrem »Hinterhof«, den sie nach Belieben ausplündern, destabilisieren und bevormunden. Mit jedem angeblichen »Präzisionsschlag« treiben die USA sich weiter in die Isolation. Sie präsentieren sich als Weltpolizist, doch in der Realität wirken sie wie ein Imperium im Niedergang, das mit Gewalt seine Machtillusion aufrechterhalten will. Statt Stärke demonstrieren die USA Schwäche – sie verraten ihre eigenen Verbündeten, verlieren an Glaubwürdigkeit und sägen am Ast, auf dem sie sitzen. Die entscheidende Frage lautet daher: Handelt es sich hier noch um Strategie – oder nur noch um blindes Zucken einer Supermacht im Niedergang?

Istvan Hidy, Stuttgart

Verstecktes System bei Nietzsche

Zu jW vom 23./24.8. und 25.8.: »Hass auf die Masse« und »Opium des Intellektuellen«

Nach Ingar Solty steht Nietzsche einerseits für das »Antisystematische« als »ein wesentliches Element der ›Zerstörung der Vernunft‹ auf dem Weg in den Faschismus« und andererseits für die »Inwerksetzung des freien Geistes und ›goldenen Zeitalters dieses Jahrtausends‹«.

Das ist die grundlegende Fehleinschätzung, die es Solty erstens nicht erlaubt, die menschenverachtende Spezifik der Irrationalität Nietzsches und der daraus folgenden Impulse für den Faschismus angemessen zu würdigen: Das ist die Reduktion der menschlichen Vernunft auf einen brachialen individuellen Egoismus und des menschlichen Subjekts auf einen bornierten Überlebenskämpfer, in Reminiszenz an die kapitalistische Konkurrenz und Darwins Theorie der Entwicklung durch Auslese im Überlebenskampf. Was bei Nietzsche wie beim Kapitalismus und Darwin auf der Strecke bleibt, ist die Anerkenntnis der Bedingtheit menschlicher Fähigkeiten und Leistungen durch die Zugehörigkeit zu einem größeren sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Ganzen, ohne das auch Nietzsche seine Aphorismen nicht hätte schreiben können. Die Methodik der Aphorismen erlaubt es Nietzsche, seine zahlreichen geistigen Quellen, die wie die Abstammungslehre Darwins an sehr vielen Stellen deutlich durchscheinen, zu unterschlagen, so wie er konzeptionell die Abhängigkeit des Individuums von der Gemeinschaft und der Gesellschaft von der Natur negiert.

Diese inhaltliche, mit einem mechanisch-materialistischen Denken einhergehende Reduktion des Menschen auf das triebhafte Emotionale ist sein Fundament. Seine Freigeistigkeit dient nur zur Dekonstruktion der Errungenschaften der Aufklärung, so vor allem der unbedingten Tatsachenorientierung, der naturrechtlichen Gleichheit der Menschen, der allgemeinen Menschenrechte und der damit verbundenen Vernunftprinzipien und Solidarität zwischen den Menschen und Nationen. Da Solty dieses, Nietzsches Gedanken verbindende, System aus Darwinismus und einer durch die Aufklärung inspirierten Gegenaufklärung, nicht beachtet, übersieht er zweitens auch die wichtigen, höchstbedenklichen Überschneidungen linker Theorie mit dem Nietzscheanismus als wahre Ursache linker Sympathien für Nietzsche: so vor allem die Geringschätzung des tatsachenorientiert und gemeinschafts- sowie natursensibel denkenden Individuums als Subjekt der Aufklärung und Triebkraft sozialer und demokratischer Entwicklung einerseits und die vehemente Rolle von Wissen, Erkenntnis, Einsicht, Aufklärung als Faktoren einer gedeihlichen, sozial- und umweltverträglichen Entwicklung des einzelnen sowie der Völker dieser Erde.

Hans Wöcherl, Altötting

Ein Rätsel

Zu jW vom 23./24.8. und 25.8.: »Hass auf die Masse« und »Opium des Intellektuellen«

Das Besondere an Friedrich Nietzsche ist der Anteil des Ersatzes mittels »lüsternem Gestreichel« (Peter Hacks) von verhinderter Sexualität als Philosophiemotor. Und folgt man Martin Heidegger, liegt die eigentliche Philosophie von F. N. im Nachlass (»Die nachgelassenen Fragmente, S. 266 (14[188])«): »Ewige Wiederkehr des Gleichen«. Aber auch das schon bei den Pythagoräern oder David Hume (Dialogues Concerning Natural Religion, S. 50) zu finden. Oswald Spengler benutzte diese Idee zur Erklärung von Weltgeschichte als immer wiederkehrendes Auf und Ab von Kulturen (»Der Untergang des Abendlandes«, 1918). Georg Lukács hat das 1954 »Die Zerstörung der Vernunft« genannt.

Soltys »Versuch« einer Erklärung für die für Nietzsche gehegte »unleugbare Anziehungskraft für linke Intellektuelle« mündet in der Behauptung, dessen »Affirmation eines moralbefreiten Begehrens« wäre ein Befreiungsruf »für … die Schwulenbewegung … und die Lesbenbewegung« gewesen. »Darin« läge »die magische Anziehungskraft des rechten Nietzsches auf seine linken Anhänger«. Einspruch. Schon Wolfgang Harich stritt gegen die Rehabilitierung von F. N. durch DDR-Linke (jW vom 16.3.2020). Für diese (und viele andere immer noch linke Heteros) greift diese Erklärung naturgemäß nicht. Zweitens werden die Aussagen von Foucault und Butler unglücklich auf deren sexuelle Orientierung verkürzend begründet. Drittens die »Vernietzschung«: Ohne Nietzsche vermeintlich keine Frankfurter Schule (»überhaupt nicht zu denken«), kein Brecht, kein Sartre, keine »Psychologie als Wissenschaft«, kein Hermann Hesse, kein Degenhardt etc. Zu diesem »Segen« steht das Schlusswort im Widerspruch. Daneben sei hier an den Begriff der konvergenten Evolution erinnert: Das Fliegen wurde auch jeweils unabhängig voneinander bei Fledermäusen, Insekten, Vögeln und Pterosauriern »erfunden«. Für eine bestimmte Art von »Kulturkritik« liegt eine Analogie nahe. Bilanz: Der »postmoderne Linksnietzscheanismus« (Jan Rehmann) bleibt bei Solty ein Rätsel.

Enrico Mönke, Ottenhagen

Statt Stärke demonstrieren die USA Schwäche – sie verraten ihre eigenen Verbündeten, verlieren an Glaubwürdigkeit und sägen am Ast, auf dem sie sitzen.

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro