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Aus: Ausgabe vom 08.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Öffentlicher Nahverkehr

Alles auf alt, nur viel teurer

Fahrbetrieb der Berliner S-Bahn weiter in DB-Hand. Siemens und Stadler profitieren mit, Kunden und Steuerzahler angeschmiert
Von Ralf Wurzbacher
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Willkommen im »fairen Wettbewerb«: Die Bahn hat sich mal wieder die Ausschreibung zur Berliner S-Bahn gesichert

Mit dem Vergabeverfahren rund um die Berliner S-Bahn geht am Donnerstag ein jahrelanges Scheingefecht zu Ende. Dann wird auch offiziell verkündet, wer das Rennen um den künftigen Betrieb der Teilstücke Nord–Süd und Stadtbahn sowie die Anschaffung und Instandhaltung eines neuen Fuhrparks gemacht hat. Eigentlich steht der Gewinner schon sehr lange fest, denn er hatte zuletzt gar keine echte Konkurrenz mehr, weshalb vieles, wenngleich nicht alles, beim alten bleibt: Die S-Bahn Berlin GmbH gibt wie bisher auf dem kompletten Netz den »Alleinunterhalter« – für mindestens die nächsten zehn Jahre. Angesichts des Rumpel- und Stotterbetriebs, der in der Hauptstadt seit Wochen für Schlagzeilen sorgt, dürfte das nicht jeden freuen.

Dabei war das Kalkül der früheren Landesregierung ein ganz anderes. Man wollte »Wettbewerb« auf der Schiene mit möglichst vielen unterschiedlichen Betreibern, und man wollte auf keinen Fall, dass die Deutsche Bahn (DB) in Gestalt ihrer Tochterfirma abermals den ganzen Kuchen abbekommt. Der damaligen Verkehrssenatorin Regine Günther (Bündnis 90/Die Grünen) schwebte vor, die beiden Streckenabschnitte an wenigstens ein, wenn nicht zwei DB-fremde Unternehmen und in zwei weiteren Losen die Aufträge für die pro Netzabschnitt erforderliche Fahrzeugbeschaffung und -wartung zu vergeben. Deshalb ließ sie ein hochkomplexes Ausschreibungsdesign aufsetzen, welches die Möglichkeit eröffnete, dass im Extremfall bis zu zwölf Akteure das Gesamtsystem hätten bespielen können. Weil das aber doch zu weit ging und die Warnungen vor einer Zerstückelung sich nicht wegdiskutieren ließen, entschärften die Verantwortlichen die Modalitäten und ergänzten die Optionen um die eines »Gesamtsiegers«.

So kam es. Am 29. August wurden die Beteiligten hinter vorgehaltener Hand über den Ausgang des Verfahrens unterrichtet. Wirklich amtlich wird die Sache allerdings erst am 11. September. Bis dahin sind die Bieter an ihre Angebote gebunden, und bis dahin haben der oder die Unterlegenen Zeit, Widerspruch gegen die Entscheidung einzulegen. Beobachter rechnen fest damit, dass Alstom auf diese Karte setzen wird. Der französische Eisenbahnkonzern war dem Vernehmen nach der letzte verbliebene Kontrahent der Bahn, nachdem zuvor schon mehrere Interessenten wegen Aussichtslosigkeit das Feld geräumt hatten. Faktisch hatte auch Alstom keine Chance. Während die DB in einem Dreierkonsortium mit den Fahrzeugbauern Stadler und Siemens antrat, können die Franzosen bloß das Wagenmaterial liefern, aber kein Partnerunternehmen, das die Züge fahren würde. Deshalb musste die DB triumphieren, und deshalb hielt Alstom bis zum Ende durch. Bei einer erfolgreichen Klage gegen das Regelwerk der Ausschreibung winkt Schadenersatz im Umfang der entgangenen Profite.

Dabei droht das Projekt schon so unfassbar teuer zu werden, mithin kostet es die Berliner 20 Milliarden Euro und mehr, davon allein acht Milliarden Euro an Zinsen. Carl Waßmuth vom Bündnis »Bahn für alle« spricht von einer Privatisierung »mit dreifacher Stoßrichtung«. Insbesondere das Vorhaben, die Beschaffung des Fahrzeugpools und dessen Unterhaltung über 30 Jahre mittels einer öffentlich-privaten Partnerschaft (ÖPP) zu realisieren, birgt unkalkulierbare Risiken. Zudem könnten die Verträge irgendwann veräußert werden und an Private-Equity-Fonds übergehen. Daneben wurde mit dem ganzen Prozedere unglaublich viel Zeit vergeudet. Wegen der mehrmals veränderten Anforderungen war die Frist zur Abgabe der Gebote 24mal verschoben worden. Als frühester Einsatztermin der neuen Wagengeneration wird nun das Jahr 2031 gehandelt – Rechtssicherheit vorausgesetzt. Sollte Alstom vor Gericht ziehen, könnte alles noch sehr viel länger dauern.

Hintergrund: Reaktionen auf Vergabeentscheid

Die Gewerkschaft EVG begrüßt die Vergabeentscheidung bei der S-Bahn Berlin. Mit dem Zuschlag für die Deutsche Bahn, Stadler und Siemens »wird ein wichtiges Signal für langfristige Sicherheit gesetzt. Für die Beschäftigten selbst, am Ende aber vor allem für die Fahrgäste«, erklärte EVG-Chef Martin Burkert in einer Mitteilung. Dieselbe Auffassung vertritt Christfried Tschepe, Vorsitzender des Berliner Fahrgastverbands IGEB. Damit sei die »Fortführung des Fahrbetriebs gesichert«, sagte er der Berliner Zeitung. »Hinsichtlich der Ausschreibung für die Beschaffung und Instandhaltung neuer Fahrzeuge setzen wir auf eine zügige Einigung mit dem unterlegenen Anbieter Alstom.« Über Arbeitsplätze und »Wirtschaftskraft«, freute sich der Berliner SPD-Landegeschäftsführer Sven Heinemann.

Kritik kommt vom Fahrgastverband »Pro Bahn«. Der Senat habe es geschafft, »das Schlechteste aus den Welten Staatsbahn und Wettbewerb zusammenzuführen«, beklagte Verbandsvize Lukas Iffländer. »Ich erwarte, dass die Kosten schockieren werden. Das wird sich die DB vergolden lassen.« Überdies sorgt er sich, angekündigte Verbesserungen könnten wegen hoher Ausgaben wegfallen oder sogar Kürzungen drohen. »Das sehen wir gerade bundesweit; selbst dort, wo man mit echtem Wettbewerb signifikante Einsparungen erzielen konnte, wird es jetzt zunehmend teurer«, erklärte er. Matthias Stoffregen vom Verband Mofair fürchtet, die Gewinnerunternehmen könnten »erheblichen Spielraum bekommen, dem Steuerzahler mehr als nötig abzuknöpfen«. (rwu)

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