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Aus: Ausgabe vom 06.09.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Woche der Widerrufe

Von Arnold Schölzel
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Am 18. August hatte Bundeskanzler Friedrich Merz nach Audienz bei Donald Trump in Washington verkündet, der Umfang von Sicherheitsgarantien für die Ukraine müsse in »Europa«, mit den USA und in der Koalition in Berlin besprochen werden – »bis hin zu der Frage, ob wir hier möglicherweise mandatspflichtige Beschlüsse zu fassen haben«. Willig folgten ihm deutsche Politiker und Medien in die Geisterdebatte über Stationierung deutscher Truppen in der Ukraine. Am 29. August war jedoch in der Erklärung des »Deutsch-Französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats«, der mit Merz und Macron in Toulon getagt hatte, nur noch vage von »sogenannten Rückversicherungstruppen« die Rede. Und zwei Tage später widerrief Merz im ZDF-»Sommerinterview«: »Für den gegenwärtigen Fall spricht niemand über Bodentruppen in der Ukraine«.

Daraus wurde eine Woche der Dementis. Das lustigste kam von der EU-Kommission. Deren Präsidentin Ursula von der Leyen hatte sich am Sonntag auf eine Rundreise zur Rückversicherungstruppensammlung durch sieben osteuropäische EU-Staaten begeben. Noch am Sonntag berichtete die Financial Times: »Ein mutmaßlicher russischer Störangriff auf Ursula von der Leyen legte die GPS-Navigationsdienste auf einem bulgarischen Flughafen lahm und zwang das Flugzeug der Präsidentin der Europäischen Kommission zur Landung mit Papierkarten.« Nachdem der Pilot eine Stunde lang über Plovdiv gekreist sei, sei er manuell gelandet, indem er analoge Karten verwendete. Am Montag bestätigte EU-Kommissionssprecherin Arianna Podestà in Brüssel: »Wir können tatsächlich bestätigen, dass es GPS-Störungen gegeben hat.« Bulgarische Behörden hätten die Vermutung geäußert, dass die Störung »auf eine unverhohlene Einmischung Russlands zurückzuführen ist«. Am Dienstag berichtete aber u. a. der Sender NTV unter Berufung auf das niederländische Portal »Feit of fake«, die Besatzung habe nach dem Auftreten der GPS-Probleme bei der Flugsicherung darum gebeten, »standardmäßig funkgestützte Navigationssysteme (VOR und ILS) einzusetzen.« Papierkarten seien nicht nötig gewesen. Der Trackingdienst Flightradar24 habe zudem über eine Verspätung von elf Minuten berichtet, das vom Flugzeug gesendete Transpondersignal habe vom Start bis zur Landung einen guten Wert der empfangenen Navigationswerte übertragen.

Widerruf ist aber Feigheit vor dem russischen Feind. Also titelte die Frankfurter Rundschau noch am Donnerstag: »Rutte warnt nach GPS-Attacke auf von der Leyen: ›Sind jetzt alle an der Ostflanke‹« Die NATO verstärke »ihre Bemühungen, der russischen Störung ziviler Flüge entgegenzuwirken.« Laut Newsweek sprach der NATO-Generalsekretär davon, »dass der gesamte Kontinent nun durch die eskalierende Taktik Russlands direkt bedroht sei.«

Merz dementiert deeskalierend sogar alle seine Abrissankündigungen fürs Sozialsystem. Noch am vergangenen Wochenende flogen die Fetzen. Merz am Sonnabend: Das können wir uns »einfach nicht mehr leisten.« Bärbel Bas (SPD) am Sonntag: »Bullshit«. Am Freitag titelte nun die FAZ einen Kommentar von Innenpolitikchef Jasper von Altenbockum: »Der Kanzler gibt klein bei«. Merz habe »zur neuen Sozialstaatsharmonie in der Koalition« erklärt: »Wir wollen ihn nicht schleifen, wir wollen ihn nicht abschaffen.« Und dann das: »Wir wollen ihn nicht kürzen.« FAZ: »Der erste Teil (›schleifen‹) stammt aus der sozialdemokratischen Waffenkammer und stand nie zur Debatte; der zweite (›kürzen‹) sehr wohl.«

Synonyme für »klein beigeben« sind »nachgeben, kapitulieren, sich geschlagen geben, aufgeben, sich beugen oder resignieren«. Den Weg dahin pflastern Dementis.

Merz dementiert deeskalierend nun auch alle seine Abrissankündigungen fürs Sozialsystem

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (8. September 2025 um 10:21 Uhr)
    Ergänzend zum Artikel: Ursula von der Leyens Reiseziel in Bulgarien war Sopot, wo eine neue Rüstungsfabrik eröffnet wurde – begleitet von großen Protesten. Dabei attackierten Demonstranten sogar ihr Fahrzeug. Diese Bilder hätten mit Sicherheit den öffentlichen Fokus bestimmt. Stattdessen wurde jedoch die Meldung über eine angebliche russische GPS-Störung stark dramatisiert und in den Vordergrund gerückt. Während die Proteste real waren, in den internationalen Medien aber nur am Rande Erwähnung fanden, erhielt die aufgebauschte GPS-Story die Schlagzeilen. So entstand der Eindruck, die Störungsmeldung sei inszeniert worden, um von den Protestbildern abzulenken. (euronew Meldung)

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