Kriegszustand nie losgeworden

Die Unterhaltung eines starken militärischen Gesamtkomplexes und seine entschlossene Nutzung für die Durchsetzung der nationalen Interessen setzen nach amerikanischer Überzeugung die Anwesenheit und hohe Bereitschaft von Streitkräften der USA in allen wichtigen Weltregionen voraus. Die Präsenz in einem Lande lässt nach Auffassung des US-Verteidigungsministers zu, in Gangstermanier auch die Anwesenheit in einem anderen Lande zu erwirken. Wenn irgendein Staat das Versprechen der Zusammenarbeit mit den USA und der Unterbringung amerikanischer Truppen auf seinem Territorium bricht, »müssen die USA die Fähigkeit besitzen, auf dessen Territorium ihren Brückenkopf auch nach gewaltsamer Türöffnung zu errichten. Diese Fähigkeit, auf fremdes Territorium gewaltsam vereinte Truppen zu führen, sichert den USA den Zugang zu den wichtigsten Häfen, Luftbasen und anderen bedeutsamen Objekten.« (…)
Die USA und ihre Verbündeten behaupten, nach den mörderischen Anschlägen vom 11. September ihre Teilnahme am ihnen aufgezwungenen Krieg des 21. Jahrhunderts vorbereiten zu müssen. Dabei sind sie nach dem Kalten Krieg den Kriegszustand eigentlich nie so recht losgeworden. Ständig hatten sie mit militärischer Gewalt gemaßregelt und blutig bestraft, um so ihre Interessen durchzusetzen. Mit dem Erfolg im Kalten Krieg legten sie den kürzesten Weg zu den natürlichen Energieträgern frei. Ohne Rohöl hat ihre Welt von heute keine Perspektive. Im letzten Jahrzehnt gelang es ihnen, unter dem Deckmantel des Kampfes für Menschenrechte ein US-Divisionsäquivalent im Nahen Osten und gemeinsam mit ihren europäischen Verbündeten zwei Korpsäquivalente auf dem Balkan vorzuentfalten. Der Hauptweg des kaspischen Erdöls nach Westeuropa und in die USA ist jetzt sicherer als vorher.
Nun folgt als nächster Schritt, militärisches Potential der USA und der NATO in die nächste Nähe oder unmittelbar in erdöl- und erdgasfündige Regionen zu bringen. Damit wird in diesen Regionen auch dem wachsenden Widerstand gegen die Washingtoner Weltordnung begegnet. Die Qualifizierung der mörderischen Anschläge vom 11. September als Kriegsentfesselung wird die NATO-Länder, darunter Deutschland, zu scharfer Konfrontation gegen alle Staaten zwingen, die nicht bereit sind, sich dieser Politik bedingungslos zu unterwerfen. Dies wird seinen besonderen Ausdruck in zwei von ihnen mitzugestaltenden Komponenten finden: in operativ-strategischen und operativ-taktischen Spezialhandlungen und in operativ-strategischen und operativ-taktischen Gefechtshandlungen.
Systematische Spezialhandlungen in nationaler Verantwortung oder mit Koalitionscharakter haben ihre hohe Effektivität im Kalten Krieg unter Beweis gestellt. Sie und nicht heiße Waffengänge fällten den Realsozialismus in Europa. Sie wurden unter Verwendung ideologisch-religiöser, politisch-diplomatischer, ökonomischer und nur zum Teil militärischer Einsatzweisen und vorwiegend nichtmilitärischer Instrumente durchgeführt. Ihre Wirksamkeit war um so stärker, als die Militärtheorie und -praxis ihre Grundlagen übersah und dadurch keine Kenntnisse gewinnen und Erfahrungen für ihre Abwehr sammeln konnte. So erwiesen sich gut ausgebildete und treue Soldaten als nutzlos, als ihre Staaten unter der gezielten und geschickten Einwirkung des Gegners wankten und von der geschichtlichen Bühne abtreten mussten. (…)
Die selbständige Luftoperation ist die Vorzugsform des Streitkräfteeinsatzes der USA im letzten Jahrzehnt. Zur Verhütung unvertretbarer eigener Verluste werden Erdtruppen nicht in Gefechte verwickelt oder erst nach entscheidender Schwächung des Gegners durch Luftschläge. Für sie spricht die äußerst geringe Luftabwehrfähigkeit der Terroristen und der Taliban. Massierte Anflüge haben sich aber gegen einen schwachen Gegner als wenig effektiv erwiesen. In Afghanistan gibt es im Gegensatz zu Jugoslawien keine Schlüsselobjekte, mit deren Zerstörung staatliche und gesellschaftliche Notstände ausgelöst werden können.
In der zuverlässigen Aufklärung von Schlagobjekten haben die Amerikaner ihre Schwierigkeiten. Bei der Operation »Wüstenfuchs« im Golfkrieg gegen den Irak verfehlten sie 57 Prozent der zur Bekämpfung vorgesehenen Objekte. (…)
Nach dem vor zehn Jahren entschiedenen Kampf der beiden Supermächte geht die Megamacht mit ihren alten und neuen NATO-Verbündeten zum Krieg gegen viele Völker und Staaten über. Diese werden die Kriege unter- und gegeneinander tunlichst unterlassen. Sie werden sich der westlichen Zivilisation entgegenzustemmen haben, die vorerst gegen die islamische vorgehen wird, wie unsinnig und verantwortungslos das auch ist und wie leidenschaftlich das auch bestritten wird.
Hans-Werner Deim: Die Fronten der Zukunft. Die Militärstrategie der USA (Teil 3). In: jW vom 1. Oktober 2001 (aktualisierte Fassung eines Artikels, der zuerst in den Marxistischen Blättern 5/2001 erschien)
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