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Aus: Ausgabe vom 06.09.2025, Seite 15 / Geschichte
Diplomatie

Keim der Entspannung

Anerkennung der Zweistaatlichkeit Deutschlands gegen 10.000 inhaftierte Deutsche und Zugang zum Osthandel: Vor 70 Jahren reiste Bundeskanzler Adenauer nach Moskau
Von Reinhard Lauterbach
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Erste Annäherung im Kalten Krieg: Konrad Adenauer (r.) und der sowjetische Ministerpräsident Nikolai Bulganin

Mitte der 1950er Jahre war die politische Situation in Zentraleuropa festgefahren. Nachdem die Sowjetunion 1953 deutlich gemacht hatte, dass sie sich in ihrer Besatzungszone keinen Regimewechsel würde aufzwingen lassen, verloren auch die westlichen Alliierten das Interesse daran, sich für das westdeutsche Sonderinteresse an einer Rückgewinnung der DDR aus dem Fenster zu lehnen. Für Bundeskanzler Konrad Adenauer war das eine bittere Pille – ähnlich der, die er im August 1961 zu schlucken bekam, als die USA den Grenzsicherungsmaßnahmen der DDR (»Mauerbau«) tatenlos zuschauten. Schließlich hatte er seine ganze Politik in den Anfangsjahren seiner Kanzlerschaft darauf gegründet, mit Hilfe der militärisch überlegenen NATO die DDR einzuverleiben, ohne viel dafür riskieren zu müssen.

Jetzt änderten sich die Rahmenbedingungen. Adenauer forcierte das, was er ohnehin vorhatte: Westdeutschland zu einem Schlüsselalliierten der USA an der unmittelbaren Frontlinie zum sozialistischen Lager auszubauen. Die symbolische Krönung dieses Prozesses war der Beitritt Westdeutschlands zur NATO am 6. Mai 1955. Der politische Gewinn für die BRD war, dass mit dem NATO-Beitritt das Besatzungsstatut außer Kraft trat und die Bonner Republik damit formal »erwachsen« und aus der unmittelbaren Kuratel der Westalliierten entlassen worden war. Das war zwar noch nicht die formal bestätigte volle Souveränität, wie sie 1990 im Zwei-plus-vier-Vertrag für das »vereinte« Deutschland festgeschrieben werden sollte, aber es gab doch eine gewisse Bewegungsfreiheit.

Versöhnliche Rhetorik

Diesen Umstand suchte sich die sowjetische Diplomatie zunutze zu machen. Am 7. Juni 1955 übergab die sowjetische Botschaft in Paris eine Note an die BRD-Botschaft – anders ging das ohne offizielle diplomatische Beziehungen zwischen Bonn und Moskau nicht. Die Note enthielt eine Einladung an Adenauer, »zu einem der Bundesregierung genehmen Zeitpunkt« zu Verhandlungen nach Moskau zu kommen, um über folgende Punkte zu beraten: erstens die Einrichtung vollständiger diplomatischer Beziehungen, zweitens den Abschluss eines Handelsvertrages und drittens das Winken mit Fortschritten in der »deutschen Frage«, ohne übermäßig konkret zu werden. Ein Besuch Adenauers könne »zur Lösung der noch nicht geregelten, Gesamtdeutschland betreffenden Fragen beitragen (…) und hierdurch sogar die Lösung des wichtigsten nationalen Problems des deutschen Volkes – nämlich der Wiederherstellung der Einheit eines demokratischen deutschen Staates – erleichtern«.

Bemerkenswert war die versöhnliche Rhetorik der Note in bezug auf den gerade einmal zehn Jahre zurückliegenden deutsch-sowjetischen Krieg. Das sowjetische und das deutsche Volk hätten von allen Nationen, die am Krieg teilgenommen hätten, die schwersten Verluste erlitten und damit auch das lebhafteste politische Interesse daran, eine Wiederholung dieses Szenarios mit dann katastrophalen Folgen für Deutschland zu vermeiden. Die Sowjetunion habe sich nie vom Gedanken der Rache am deutschen Volk leiten lassen. Es war nüchterner formuliert als die zehn Jahre später veröffentlichte Botschaft der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder mit der Formel »Wir verzeihen und bitten um Verzeihung«, aber der inhaltliche Kern war derselbe.

Adenauer hatte es mit der Antwort nicht eilig. Erst am 30. Juni ließ er der sowjetischen Seite mitteilen, Bonn sei bereit, »die Frage der Herstellung diplomatischer, kommerzieller und kultureller Beziehungen (…) zu erörtern und die damit verbundenen Fragen zu prüfen«. Allerdings müsse zuvor die Reihenfolge geklärt werden, in welcher die anstehenden Fragen zu behandeln seien. Das klang nach Hinhaltetaktik und war es auch. Adenauer fürchtete, Moskau werde versuchen, die BRD aus der gerade erst verkündeten Westintegration – einschließlich des Aufbaus einer westdeutschen Armee mit ehemaligen Wehrmachtsoffizieren an der Spitze – wieder herauszulocken. Der Kanzler war sich andererseits bewusst, dass die westdeutsche Öffentlichkeit noch nicht hundertprozentig auf NATO-Kurs war und er innenpolitisch verhindern musste, dass ein möglicher Entspannungserfolg, der nach dem erfolgreichen Abschluss des österreichischen Staatsvertrags in der Luft lag, Wasser auf die Mühlen der parlamentarischen Opposition leiten würde. Insbesondere die SPD akzeptierte die NATO-Mitgliedschaft erst vier Jahre später im »Godesberger Programm«. Das setzte ihn unter Druck: Adenauer musste einen Erfolg nach Hause bringen, aber es musste als sein Erfolg – und nicht der der westdeutschen Opposition – darstellbar sein.

Auge auf die Innenpolitik

Deshalb versuchte die deutsche Seite, in den Gesprächen sehr schnell auf Fortschritte in der »deutschen Frage« zu dringen. Damit biss sie bei der sowjetischen Seite auf Granit. Moskau legte großen Wert auf die Etablierung vollständiger diplomatischer Beziehungen, weil dies von westdeutscher Seite implizit die Anerkennung der deutschen Zweistaatlichkeit bedeutete: Wenn in Moskau ein DDR-Botschafter und einer der BRD amtierte, dann gab es keinen Grund, warum dies nicht anderswo in der Welt auch so sein sollte. Genau deshalb entwickelte die BRD praktisch gleichzeitig mit den Moskauer Gesprächen die spätere »Hallstein-Doktrin«: Der Rest der Welt sollte sich entscheiden müssen, ob er Beziehungen zur BRD oder zur DDR unterhielt.

Um sich einen innenpolitischen Erfolg zu sichern, versuchte Adenauer im übrigen, die Frage der »Rückkehr der Kriegsgefangenen« an prominenter Stelle der Verhandlungen zu plazieren. Auch dies gelang ihm nicht. Er musste sich mit einem mündlich gegebenen Ehrenwort des sowjetischen Ministerpräsidenten Nikolai Bulganin zufriedengeben – ein Ehrenwort, an das die UdSSR sich hielt. Zwischen Oktober 1955 und Januar 1956 wurden knapp 10.000 Personen aus sowjetischer Haft entlassen – nach deutscher Darstellung Kriegsgefangene, nach sowjetischer Lesart verurteilte Kriegsverbrecher. Ihre Freilassung war im Prinzip bereits im Juni 1955 im Zentralkomitee der KPdSU beschlossen worden, die UdSSR verkaufte also etwas, was sie sowieso vorhatte, zum bestmöglichen Preis.

In der westdeutschen Öffentlichkeit brachte das Adenauer gleichwohl wertvolle Punkte ein und trug dazu bei, dass die Union bei den Bundestagswahlen 1957 die absolute Mehrheit erreichte. Eine nach außen weniger beachtete, aber langfristige Folge der Moskau-Reise des Kanzlers war der Start des westdeutschen Osthandels. Seine Bedeutung für das wirtschaftliche Florieren des »Geschäftsmodells BRD« in den Jahrzehnten bis 2022 ist kaum zu überschätzen.

Aus der Geschichte lernen

Die Regierung der UdSSR gibt sich die Ehre, der Regierung der Bundesrepublik Deutschland folgendes zu erklären:

Die Sowjetregierung ist der Auffassung, dass die Interessen des Friedens und der europäischen Sicherheit sowie die nationalen Interessen des sowjetischen und des deutschen Volkes die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland erfordern.

Die historische Erfahrung lehrt, dass die Erhaltung und Festigung des Friedens in Europa in entscheidendem Maße von dem Bestehen normaler und guter Beziehungen zwischen dem sowjetischen und dem deutschen Volk abhängt. Andererseits kann das Fehlen solcher Beziehungen zwischen den beiden Völkern nur Unruhe in Europa hervorrufen und die allgemeine internationale Spannung nur verschärfen. (…) Es ist bekannt, dass in den Jahren, in denen freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen unseren Völkern bestanden, die beiden Länder daraus großen Vorteil zogen. Dagegen brachten feindselige Beziehungen und Kriege zwischen unseren Völkern in der Vergangenheit diesen Unheil, Entbehrungen und Leid, die unermeßlich waren.

Insbesondere erlitten das sowjetische und das deutsche Volk während der beiden vergangenen Weltkriege die größten Verluste. (Sie) belaufen sich auf Millionen Menschen und überschreiten um ein Mehrfaches die Gesamtverluste aller anderen Staaten, die am Kriege teilgenommen haben. Zerstörte Städte, niedergebrannte Dörfer, die Vernichtung unermesslicher Reichtümer der beiden Völker – dies waren die Folgen der Kriege zwischen unseren Staaten. (…)

Note der Regierung der Sowjetunion an die Regierung der Bundesrepublik vom 7. Juni 1955

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