Und dann kam Lucy
Von Marc Hieronimus
Charles M. Schulz hat im halben Jahrhundert von 1950 bis zu seinem Tod 2000 knapp 18.000 Episoden seiner »Peanuts« gezeichnet. Der Comic war immer ein Zeitungsstrip mit den typischen räumlichen, grafischen und vor allem erzählerischen Einschränkungen: Die Streifen für die Wochentagsausgabe haben vier Bilder, die für das Wochenende sind etwas länger. Auf Farbe und zeichnerische Feinheiten wird verzichtet, und auch längere Erzählstränge müssen alle vier Panels eine Pointe aufweisen.
Das hat Schulz nicht gehindert, über die Jahrzehnte ein Sozialgefüge von fast dreißig Persönlichkeiten zu entwerfen und auszumalen, darunter weniger bekannte Figuren wie Snoopys sieben Geschwister, der ewig von einer Staubwolke umgebene Pig Pen, die nie ins Bild gerückte Nachbarkatze namens Zweiter Weltkrieg oder Charlie Browns ebenfalls nie gezeichneter und namenloser Schwarm »Das kleine rothaarige Mädchen«, das wahrscheinlich wie so vieles in der Serie einen biographischen Hintergrund hat.
Die Peanuts erleben das US-amerikanische Kalenderjahr mit seinen bekannten wiederkehrenden Elementen: Weihnachten, Schneemannbau, Ostern, Valentinstag, Muttertag, neues Schuljahr, Beginn der Baseballsaison, Ferienlager, Erntedankfest, Halloween und, nicht zu vergessen, der von Schroeder gefeierte Geburtstag Beethovens am 18. Dezember. »Die Welt der Peanuts ist ein Mikrokosmos, eine kleine menschliche Komödie, für anspruchsvolle Erwachsene wie für Kinder«, hat Umberto Eco geschrieben. Ob auf dem Baseballfeld, im Klassenraum oder im Herbst am drachenfressenden Baum, überall tragen sich die komischen und melancholischen Kleinereignisse der Kinder zu. Nur Snoopy und sein Vogelfreund Woodstock fallen mit ihren absurden Betägigungen und Dialogen aus dem Rahmen, nehmen dem Gesamteindruck aber auch einen Teil der unterschwelligen Schwere. Man muss zum Glück nicht gleich die kostspielige und nur noch antiquarisch käufliche Werkausgabe erstehen, um sich anlässlich des 25sten Todestages ihres Schöpfers erstmalig oder mal wieder mit den »Kleinen Leutchen«, wie sie zuerst heißen sollten, zu beschäftigen.
Der Reclam-Verlag, der eigentlich keine Comics ins Programm aufnimmt, hat anlässlich des 75. Geburtstags der Reihe (im Oktober) ein paar handverlesene Erdnussportionen herausgebracht, darunter je ein gelbes Bändchen »für alle Lebenslagen« mit Snoopy, Peanuts, Charlie Brown bzw. Woodstock, noch eins über Peanuts und Freundschaft (»ein Kultbuch zum Verschenken«), Advent mit den Peanuts, Feiern mit den Peanuts, beide auch als Spiralaufsteller »mit den besten Comics und Weisheiten«. Und in der Reihe »100 Seiten« hat der Verlag auch das lehrreiche Buch des Kritikers und Übersetzers Joachim Kalka neu aufgelegt, der sich schon in seinem schönen »Hoch unten. Das Triviale in der Hochkultur« als Comicfreund und -versteher erwiesen hat.
Kalka schreibt eigentlich gegen diese Art der Verwertung: »Die verschiedenen Versuche, aus den Peanuts-Geschichten mit bedeutsamem Gestus trostreich-theologische Lebensweisheiten zu destillieren, haben etwas überaus Törichtes. Dieser sehr liebevoll gezeichnete und von den Lesern geliebte Strip ist im Grunde von hochneurotischer Schwärze. Es handelt sich um ein düsteres Märchen vom fortwährenden Scheitern.« Nicht zu vergessen sind auch Lucys und Peppermint Pattys Boshaftigkeiten gegenüber der Hauptfigur. Man kann Schulz vorwerfen, dass die Peanuts nur höchst selten zu politischen Themen Stellung nehmen, andererseits sind es halt auch nur Kinder in einem Comicstrip. Schwerer wiegt da schon der Vorwurf, dass er die Filme und Serien nicht verhindert hat, die am Versuch scheitern mussten, diesen Comic für Jugendliche und Erwachsene auf ein Kinderpublikum zuzuschneiden. Manche haben überdies die spätere Dominanz der Snoopy-Phantasien beklagt, der auf seiner Hütte liegend Romane schreibt oder Fliegerkämpfe mit dem Roten Baron bestreitet. Trotzdem, so Kalka, »ist diese merkwürdige Legierung aus brutaler Gemeinheit, Zutraulichkeit und Komik ein Meisterwerk«.
Joachim Kalka: Peanuts. 100 Seiten. Reclam-Verlag, Ditzingen 2025, 100 Seiten, 12 Euro
Ebenfalls bei Reclam, jeweils 8 Euro:
– Charles M. Schulz: Peanuts für alle Lebenslagen. 2023, 127 Seiten
– Charles M. Schulz: Snoopy für alle Lebenslagen. 2024, 128 Seiten
– Charles M. Schulz: Advent mit den Peanuts. 2024, 144 Seiten
– Charles M. Schulz: Feiern mit den Peanuts. 2024, 144 Seiten
– Charles M. Schulz: Charlie Brown für alle Lebenslagen. 2025, 143 Seiten
– Charles M. Schulz: Woodstock für alle Lebenslagen. 2025, 143 Seiten
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