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Aus: Ausgabe vom 06.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Faschisten in der Ukraine

Der Killerpate

Ukraine: Andrij Parubij hat ein weltbewegendes Kapitel faschistischer Kriminalgeschichte geschrieben. Seine Verbrechen sind aber bis heute nicht aufgearbeitet
Von Susann Witt-Stahl
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Andrij Parubij als »Maidan«-Kommandant mit »Selbstverteidigungsgruppen« vor dem Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft in Kiew (14.2.2014)

Der Expräsident des ukrainischen Parlaments wurde am Dienstag mit großem nationalistischen Pathos auf dem Litschakiwskij-Friedhof in Lwiw beigesetzt. Sein Mörder hat bereits ein Geständnis abgelegt. Politiker der westlichen Welt – darunter auch deutsche von CDU und Grünen – betrauern den Verlust von Andrij Parubij als Staatsmann und verdienten Streiter für die europäische Idee und Demokratie in der Ukraine. Wird Parubijs finstere Vergangenheit, zum Beispiel als Führer der paramilitärischen Neonaziorganisation »Patriot der Ukraine«, aus der 2014 die »Asow«-Miliz hervorging (die bald darauf als Regiment in die Nationalgarde integriert wurde), überhaupt einmal erwähnt, dann ist stets von einer angeblichen Mäßigung des Politikers und Abkehr vom Rechtsradikalismus nach den Maidan-Kampftagen die Rede.

In Wirklichkeit sprach Parubij noch 2018 in einer TV-Sendung seine Bewunderung für Adolf Hitler aus und heizte den Krieg gegen Russland an. Der unabhängige US-amerikanische Forscher Moss Robeson betrachtet ihn sogar als »heimlichen Paten der Antifriedensbewegung der Banderisten«: Parubij war der erste, der schon vor den Parlamentswahl 2019 die »Widerstandsbewegung gegen Kapitulation« ankündigte – eine Reaktion auf Selenskijs Versprechen, einen stabilen Frieden mit Moskau zu verhandeln. 2020 forderte Parubij in einer Ansprache vor Anhängern: »Wir müssen den Tag näherbringen, an dem wir Selenskij aus seinem Amt vertreiben.«

Das siebte Gebot

Der Führungsstab der »Widerstandsbewegung« rekrutierte sich aus dem Bandera-Flügel der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B), darunter langjährige enge Mitarbeiter von Parubij wie Andrij Lewus. Robeson verweist auf seinem Bandera-Lobby-Blog auf Fotos in sozialen Medien, die Parubij in jüngerer Vergangenheit mit Vertretern der Banderisten-Spitzenprominenz zeigen, etwa 2019 in New York City; 2021 nahm er dort an einer Konferenz einer OUN-B-Denkfabrik teil. 2024 gedachte Parubij seines plötzlich verstorbenen »Freunds« Stefan Romaniw, dem Führer der OUN-B weltweit. Eine tiefe Verbundenheit drückt auch der Nachruf der OUN-B für Parubij aus, der deutlich macht, dass dieser keineswegs nur ein Salonnazi war. Parubij sei »bis zum letzten Atemzug« nicht »von seinem kompromisslosen Weg eines ukrainischen Nationalisten abgewichen«, versichert die OUN-B. Er habe stets »eifrig« nach dem »Dekalog« der OUN gelebt, heißt es in der Erklärung, die sie an seinem Todestag veröffentlichte und die mit dem fünften Gebot »Räche den Tod der großen Ritter!« endet.

Besonders konsequent handelte Parubij offenbar nach dem siebten Gebot – »Du sollst nicht zögern, das allergrößte Verbrechen zu begehen, wenn die Sache dies verlangt«, wie es in der Originalfassung von 1929 heißt –, und zwar als Schlüsselfigur von zwei Massakern im Jahr 2014, die bis heute die Welt bewegen.

»Wir wissen seit langem, dass Parubij am 29. April persönlich zu den Maidan-Kontrollpunkten in der Nähe von Odessa kam, den Leuten kugelsichere Westen der Klasse fünf aushändigte und sie anwies, das Pogrom im Gewerkschaftshaus durchzuführen«, berichtete Wassil Polischuk vergangene Woche. Polischuk war damals Stadtrat in Odessa und Augenzeuge des Gewaltexzesses vom 2. Mai. Nachdem er Ermittlungen verlangt hatte, wurde sein Sohn auf der Straße von drei Unbekannten mit Metallstangen niedergeprügelt und erlitt einen Schädelbruch. Die Familie musste die Ukraine verlassen.

Der kanadische Politikwissenschafter Ivan Katchanovsky unterstrich vor einigen Tagen Polischuks Vorwürfe. Er hob hervor, dass Parubij, damals Leiter des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, am Vorabend des Vorfalls mit rund 500 Maidan-Schlägern von Kiew nach Odessa gefahren war und die Mordbrennerei explizit angeordnet hatte. Für Katchanovsky ist das nur eines von vielen Indizien dafür, dass die faschistische Jagd auf Maidan-Gegner in jenen Tagen »von hochrangigen Regierungsvertretern orchestriert« worden war, wie er in einer 2024 veröffentlichten Abhandlung über »rechtsextreme politische Gewalt in der Ukraine« darlegt.

Massaker auf dem Maidan

»Er befahl, alles niederzuschlagen, zu zerstören und niederzubrennen«, bezeugt Zesari Badschalidse in der Dokumentation »The Square of Broken Hopes« der israelischen Filmjournalistin Anna Stephan von 2018. Badschalidse gehörte zu einer Gruppe von georgischen Scharfschützen, die die Faschisten in Odessa unterstützen sollten. Als die Anti-Maidan-Demonstranten in das Gewerkschaftshaus flüchten mussten, sei Parubijs »Appetit nur noch größer geworden«, so Badschalidse. Obwohl aus dem brennenden Gebäude zunehmend verzweifelte Hilfeschreie zu hören waren, habe Parubij angewiesen, die Löschfahrzeuge der Feuerwehr zu blockieren und die eingeschlossenen Menschen nicht entkommen zu lassen.

Davor gehörte Parubij bereits zu den Drahtziehern des Massakers auf dem Maidan am 20. Februar 2014 mit Dutzenden Toten. Bei der False-Flag-Operation schossen Sniper aus umliegenden Gebäuden, unter anderem aus dem Hotel Ukraine, auf Demonstranten, Polizisten und vorsätzlich auf Journalisten. Den harten Kern des Scharfschützenkommandos sollen rund 50 Georgier, darunter auch Badschalidse, gebildet haben, die von Mamuka Mamulaschwili, einem Vertrauten des kurz vorher aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Micheil Saakaschwili und später Kommandeur der Georgischen Legion der Ukraine, als Söldner rekrutiert worden waren.

Zeugen ausgeschaltet

»Andrij Parubij hat die Sniper persönlich vom Flughafen Borispil in Kiew abgeholt und in eine konspirative Wohnung gebracht«, sagte Tristan Zitelaschwili in einem Interview, das junge Welt im Dezember 2024 in Tbilissi geführt hat. Auf ihren Einsatz seien sie im Militärtrainingscenter Krtsanisi in der Nähe der georgischen Hauptstadt vorbereitet worden, das auch von der US-Armee genutzt wird, so Zitelaschwili weiter. Der Generalmajor a. D. war Vorgesetzter von einem der Söldner gewesen, als der noch als Offizier in der georgischen Armee diente, und selbst auf dem Maidan, um als Militärexperte die Lage zu beobachten. Als nach dem gelungenen Staatsstreich in Kiew mindestens sechs der georgischen Maidan-Sniper, die mittlerweile in Mazedonien und anderen osteuropäischen Ländern untergetaucht waren, ermordet wurden, um potenzielle Belastungszeugen loszuwerden, soll der ihm bekannte Söldner Zitelaschwili um Beistand gebeten haben. Daraufhin organisierte Zitelaschwili ein geheimes Treffen von einigen der noch lebenden Georgier mit ausgewählten internationalen Pressevertretern. Dadurch, dass diese Maidan-Sniper die Flucht nach vorn in die mediale Öffentlichkeit antraten, konnte vieles, das bislang als »Räuberpistole« abgetan worden war, als historische Tatsache bewiesen werden.

Katchanovsky hat in seiner Studie »The Maidan Massacre in Ukraine« Zeugen präsentiert, auch aus dem Umfeld von Parubij, die aussagten, dass der in seiner Funktion als Maidan-Kommandant schon für die als friedlich angekündigte Großdemonstration am 18. Februar ein »Blutvergießen« angeordnet hatte. Den Scharfschützenangriff zwei Tage später hätten Parubij (ebenso der spätere ukrainische Präsident Petro Poroschenko) befohlen, weil die Maidan-Bewegung dringend »heilige Opfer« bräuchte, um an die Macht zu kommen. Ebenso hat Katchanovsky Belege dafür, dass Parubij rund sechs Wochen nach der tödlichen Eskalation der Krawalle Killern des »Rechten Sektors« half, ihre Waffen in Musikkoffern wegzuschaffen, damit Ermittler sie nicht beschlagnahmen konnten.

Bis heute werden Augenzeugen sowie die wenigen Forscher und investigativen Journalisten, die den Verbrechen von Parubij und seinen Komplizen nachgegangen sind, als »Kreml-Propagandisten« diffamiert. Ivan Katchanovsky kritisierte wiederholt den auffälligen Unwillen westlicher Medien zur Aufklärung, trotz der vorliegenden »explosiven Geständnisse«. Es gibt sogar Fälle von Desinformation: 2021 etwa versuchte das ARD-»Faktenfinder«-Programm die Glaubwürdigkeit der georgischen Sniper zu erschüttern, die gegen Parubij und andere Anstifter der faschistischen Raserei von 2014 ausgesagt hatten – etwa mit der Behauptung einer von ihnen habe in Wahrheit während des Maidan-Massakers im Gefängnis gesessen. »Fake News«, entgegnete Katchanovsky. Falschbehauptungen, Lügen, Verschleierungen finden sich in erschreckend großer Zahl in Qualitätsmedien über die damaligen Ereignisse und deren fatale Folgen – nicht selten stammen sie von Fassadennetzwerken der internationalen Bandera-Lobby.

Hintergrund: Medienrequiem für Parubij

Der Spiegel würdigte Andrij Parubij unter dem Titel »Trauerreden auf einen Revolutionär« als geläuterten rechten Politiker. »Es gibt politische Karrieren, die am Rande der Gesellschaft beginnen und in ihrer Mitte enden.« In dem langen Requiem werden Parubijs Freunde zitiert, die ihn als staatstragenden Politiker charakterisieren, »der nicht den Konflikt suchte, sondern den Ausgleich«. Parubijs geifernden Russenhass interpretiert Der Spiegel als hervorragende Prognosefähigkeit. »Russland war für Parubij das Karthago, das besiegt werden musste, um die Ukraine zu befreien. Er sagte das, als das für viele Ukrainer noch aberwitzig klang. Heute reden die meisten so.« Die Rolle von Parubij auf dem Maidan, als die Gewalt »von beiden Seiten« eskaliert sei, ist, laut Spiegel, »nie bis zum Ende geklärt worden« (Odessa wird gar nicht erwähnt). Was offenbar viel wichtiger ist und am Ende zählt, lässt das Magazin einen seiner Mitstreiter sagen: »Belarus und Georgien hatten keinen Erfolg, weil sie keinen Parubij hatten.«

Unter dem Motto »Erlaubt ist, was dem Westen gefällt«, bildet die Weißwaschung des überzeugten Nazis und Mordauftraggebers einen Grundtenor der deutschen Medienberichterstattung – die in weiten Teilen von Reuters, dpa etc. übernommen wurde. Die Taz betrachtet Parubij als »Berufspolitiker und Berufsrevolutionär«, zwar früher einmal »radikalnationalistisch«, aber im Kern doch ein guter Patriot: »Der Einsatz für eine unabhängige Ukraine zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben Parubijs.« Er habe als »eine der Leitfiguren bei den großen proeuropäischen Bewegungen der jüngeren ukrainischen Geschichte« gegolten, apostrophiert der Stern. Die Zeit stellt Parubij und die Halsabschneider-Banden des »Rechten Sektors« und anderer Faschistentrupps unter seinem Kommando als Opfer staatlicher Aggression dar: »Parubij befehligte Verteidigungsgruppen während der Maidan-Proteste, die blutig niedergeschlagen wurden.«

Folglich vermutet das deutsche Medienestablishment nahezu unisono den Mörder des »Russland-Kritikers« und dessen Motive in einer Richtung (obwohl Parubij unzählige Feinde und Rivalen hatte und viel zuviel wusste): »Die russische Spur« hält sich in den Zeitungsberichten – selbst nachdem der Täter gefasst ist, Verbindungen zu »Putins Geheimdiensten« vehement bestritten hat und es bisher auch keine Beweise gibt, die seine Aussagen widerlegen. Deutsche Welle hat die Tat von »Experten«, darunter Exmitarbeiter des von Faschisten durchsetzten Sicherheitsdienst der Ukraine, bereits als »Element einer hybriden Kriegführung« Russlands einstufen lassen. (sws)

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