»Ronny hat’s geschafft«
Von Ken Merten
Es ist kalt in Leutzschland: Nach fünf Spielen in der Regionalliga Nordost steht die Fußballherrenabteilung der BSG Chemie Leipzig noch ohne Punkt da. Schlimmer: Das sind jetzt schon 13 hinter dem Erbfeind FC Lokomotive. Gegen Probstheida zogen die Chemiker bereits in der vergangenen Saison dreimal – zweimal in der Liga, dazu eine 1:4-Klatsche im Viertelfinale des Sachsenpokals – den kürzeren.
»Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher«: Den Spruch hört man schon eine Weile nicht mehr im Alfred-Kunze-Sportpark, auch wenn es scheint, dass das Deutschtum zumindest darin aufrechterhalten wird, wenn es darum geht, den Krieg zu verlieren. Die innerleipziger Rivalität hat sich über die Fußballanhängerschaft auch politisch grob auseinanderdividiert: Chemie ist irgendwie links und Lok irgendwie rechts. Schaut man auf die jeweilige Anhängerschaft, bestätigen die je zahlreichen Ausnahmen als solche die Faustregel.
Das sah lange anders aus bei der BSG bzw. beim 1990 aus Grün-Weiß Leipzig und Chemie Böhlen zusammengerührten FC Sachsen Leipzig: Auf den Rängen kloppten sich Grüne-Weiße mit Grün-Weißen und allerspätestens mit dem Umzug ins Zentralstadion machte der interne Konflikt auch als vereinspolitischer vollends klar, dass sich hier Wege scheiden mussten. Die 1997 zum Namensschutz und zur Förderung vom FC Sachsen gegründete BSG Chemie nahm 2008 selbst den Spielbetrieb auf, drei Jahre später wurde der FC Sachsen Geschichte.
Geschichten erzählen kann auch Clemens Meyer. Der 1977 in Halle/Saale zwar Geborene, seit Verlassen der Entbindungsstation aber im Leipziger Osten Ansässige ließ sich Mitte der 1990er von seinem Kumpel überreden, ein Heimspiel vom FC Sachsen zu besuchen. »Ronny hat’s geschafft, ich bin jetzt auch Chemiker«, sagte Thekensportler und Pferdemädchen Meyer kürzlich im Leipziger Stadtgeschichtlichen Museum beim Talk »Die Chemie Leipzig trifft die 90er Jahre!«. Von Alexander Mennicke, einem der Kuratoren der Ausstellung »Wir sind Leutzscher!« moderiert, wurde hiermit die Sonderausstellung mit der Hauptexposition des Hauses, »Zwischen Aufbruch und Abwicklung: Die 90er in Leipzig« verquickt, eine Woche bevor beide Ausstellungen am 8. September abgebaut werden.
Wer Meyer als Autor kennt, kennt ihn wahrscheinlich auch als Krawall: Wenn er gerade einmal nicht einen Buchpreis nicht bekommt, zeigt er, dass er auf charmante Art amüsanter ist als sein Werk. »Es riecht komisch, weil ich Pfeife rauche«, sagte er mit Verweis auf sein FC- Sachsen-Nicki, das er sonst in seinem Arbeitszimmer hängen hat, in das er nur zur Feier des Tages einmal geschlüpft ist. Warum aber FC Sachsen? »Wieso nennen die sich FC? Wo ›Club‹ doch ein Schimpfwort ist?« Sehr berechtigte Frage. Andere Schmährede störte Meyer anders: Weder dem ursprünglichen »Welche Hure, welches Vieh, schuf die BSG Chemie?«, noch aber der bis heute zumindest anonym im Chat bei Sport im Osten-Livestreams auf Youtube zu lesenden Reaktion »Welche Hure, welcher Bock, schuf den 1. FC Lok?« kann Meyer etwas abgewinnen, da nun mal Verunglimpfungen von Sexarbeiterinnen. Seine Absage an »ACAB« als Diskreditierung nichtehelicher Kinder wird vom zahlreich erschienenen Publikum ebenfalls mit Belustigung wie Applaus aufgenommen.
Auch wenn das in der Mehrzahl primär für die Fußballanekdoten gekommen ist, geht Meyer noch grundsätzlich auf die 90er ein, die von Mennicke als diese benannten Baseballschlägerjahre: Meyer sei mindestens dreimal mit Schusswaffen bedroht worden. Er selbst blieb zwar lieber als angehender Schriftsteller daheim (»Was kann einem da passieren? Nichts.«); wenn er rausging, dann mit was einstecken. Damit ist auch die Brücke zurück zum Fußball geschlagen: Meyer wie Mennicke können von ihren Erlebnissen berichten, wie sie mit Messer in der Tasche zum Stadion gingen. Mennicke schmuggelte es als Stöpsel sogar rein, ohne zu wissen, warum eigentlich. Meyer versteckte die versehentlich mitgenommene Waffe im Gebüsch und fand sie nie wieder. Sowieso: »Packt die Messer weg, kauft euch Pfefferspray!«
Und der deutschnationale Dreck? Meyer musste einmal beim Zechen Kumpel Ronny zur Raison rufen, und es ist glaubhaft, wie sehr derlei den Autor von »Als wir träumten« (2006) anekelt. So sehr nimmt man ihm auch ab, dass er von heute aus das vor der Liquidierung der DDR innovierte und damals skandierte »Nur ein Leutzscher ist ein Deutscher« als Löcken wider den Staatssicherheitsstachel und »hohe Form der Ironie« versteht. Mal ehrlich: Welches Böcklein, welches Vieh, nennt so was Ironie?
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