Das Herz der Erde
Von Wolfgang Nierlin
Nur einzelne helle Lichtpunkte sind vor dem dunklen Hintergrund zu sehen. Zu hören sind Geräusche tropfenden Wassers, in die sich schwerer Menschenatem mischt. Tausend Meter unter der Erde ist die Luft dünn, die Arbeit schwer und ungesund. Die Körper der Männer, die hier mit Pickeln und Schaufeln im gleichmäßigen Rhythmus schuften, sind mit Schweiß und Kohlestaub bedeckt. Ihre Stirnlampen wirken in dieser Unterwelt wie ferne, friedliche Signale der Hoffnung.
Wenn im Innern des höllischen Bergs gesprengt wird, ist es unter Tage wie im Krieg. Demgegenüber steht die stille, zärtliche Liebe zweier junger Männer, die wie ihre Kollegen nur als Nummern in der Kartei ihres Unternehmens geführt werden. Die beiden Mittzwanziger Viet und Nam haben trotz Entbehrung, Dreck und Gefahr im Bauch des Bergwerks ein Refugium für ihre heimliche Liebe gefunden.
Das Verborgene und Vergrabene, die Suche nach dem Verschollenen und die Sehnsucht, in einem anderen Leben zu verschwinden, sind motivisch in Trương Minh Quýs beeindruckendem Film »Viet und Nam« eng miteinander verbunden. Auf 16-mm-Material gedreht, verknüpft der vietnamesische Regisseur die unterirdischen Geheimnisse mit einer Welt aus Träumen, Ahnungen und Geisterglauben. In ihnen sind die Traumata einer schwerwiegenden Vergangenheit präsent. Diese legen Spuren und erzeugen Bewegungen, die das raumzeitliche Kontinuum auflösen und auf sehr poetische Weise für fließende Übergänge zwischen den Seins- und Bewusstseinszuständen sorgen. In langen Einstellungen und mit einem ruhigen, fast unmerklich die Realitätsebenen wechselnden Erzählfluss überschreitet der Film verschiedene Grenzen.
Nam (Phạm Thanh Hải) und seine Mutter Hoa (Thi Nga Nguyen), die zusammen in ärmlichen Verhältnissen leben, begeben sich gemeinsam mit Viet und einem kriegsversehrten Veteranen auf eine Reise in den Süden des Landes, wo sie das Grab von Nams verschollenem Vater zu finden hoffen. Dabei folgen sie den Hinweisen, die Hoa in Traumerscheinungen erhalten hat und die sie zu einem mächtigen Baum tief im Regenwald führen, wo sie auch auf eine Bombe stoßen. Sie besuchen ein Kriegsmuseum, einen verwahrlosten Friedhof und ein ehemaliges Schlachtfeld mit bizarren Reenactments. Und sie begegnen einem Medium, das die Suche trauernder Menschen nach ihren Angehörigen unterstützt. Angesichts vaterloser Kinder und zerrissener Familien wird das Graben hier zu einem Sinnbild für die Suche nach Wahrheit und Gewissheit.
Der vielschichtige, in Vietnam verbotene Film, dessen Originaltitel »Untergrund« im übertragenen Sinne zugleich »Im Herzen der Erde« bedeutet, verbindet außerdem die Frage nach Herkunft und Geschichte mit einer Fluchtbewegung ins Ungewisse. Nam vertraut sich nämlich für seinen Traum von einem anderen Leben einem Menschenschmuggler an. Überleben sei ein Glücksspiel, heißt es einmal angesichts der Gefahren einer solch illegalen Passage übers Meer. Am Ende schwimmt ein Container, in dem wie im Bergwerk die Atemluft knapp bemessen ist, einsam und verloren auf der offenen See. Er trägt das Heimweh der Exilierten und die Sehnsucht nach der zurückgelassenen Liebe als unsichtbare Last mit sich.
»Viet und Nam«, Regie: Trương Minh Quý, Vietnam/Singapur/Frankreich u. a. 2024, 129 Min., Kinostart: heute
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