Chlorbrille ab
Von Ronald Kohl
Tilda (Luna Wedler) ist hochbegabt. Ihre Mutter (Laura Tonke) liebt Hochprozentiges. Was angesichts ihrer Biographie nicht verwundert: Magister in Germanistik und gleich danach schwanger.
Tilda hat aus Mamas Fehlern gelernt. Sie studiert Mathematik. Und sie hat in ihrer wilden Zeit lieber Pilze eingeworfen. Doch selbst das ist längst vorbei, für immer; es muss irgendwann nach zu vielen Magic Mushrooms mal einen Autounfall gegeben haben, richtig heftig, mit vielen Toten. Unter ihnen Ivan, der coolste russische Aussiedlerboy aller Zeiten, sieht man mal von seinem großen Bruder ab: Viktor (Jannis Niewöhner).
Viktor, das klingt ein bisschen wie Vektor. Und tatsächlich zischt Viktor neuerdings Tag für Tag wie ein Pfeil durchs Wasser der öffentlichen Badeanstalt einer westdeutschen Kleinstadt. 22 Bahnen Kraul am Stück. Tilda zählt jedes Mal mit, fest davon überzeugt, dass Viktor nichts merkt. Doch als er einmal nach der letzten Bahn seine Chlorbrille abnimmt, treffen sich ihre Blicke.
Ich muss zugeben, dass ich bei Caroline Wahls Romanvorlage von »22 Bahnen« ziemlich schnell schlappgemacht habe, ungefähr nach 22 Seiten. Denn schon da war klar: Tilda jobbt im Supermarkt. Tilda kümmert sich aufopferungsvoll um ihre besoffene Mutter. Und Tilda ist auch die Ersatzmutti für ihre kleine Schwester Ida. Und Tilda hämmert auch noch so ganz nebenbei ihre Masterarbeit in die Tasten, wie gesagt: Studiengang Mathematik und nicht Germanistik. Und Tilda ist trotz der häuslichen Belastung im Studium so brillant, dass ihr Professor sie geradezu bekniet, nach ihrem Master eine Doktorandenstelle in Berlin anzunehmen. – Ich glaube, ich würde lieber Mathematik studieren, als aus diesem Alptraum von Story einen Film zu machen. Aber ich bin auch nicht Elena Hell, die das Drehbuch verfasst hat.
Empfohlen hat sie sich für diesen Job mit ihren beiden bei Rowohlt erschienenen Romanen »Sisi: Das dunkle Versprechen« und »Sisi: Verlangen und Verrat«, vor allem aber mit der sechsteiligen RTL-Serie »Sisi«, die ebenfalls aus ihrer Feder stammt. Und es war auf jeden Fall die richtige Entscheidung, sie ins Boot zu holen. Elena Hell, die nach dem Abitur als Model gearbeitet und anschließend unter anderem Psychologie studiert hat, ist genau die Richtige, wenn es darum geht, einen ehrgeizigen Charakter sympathisch wirken zu lassen.
Tilda hat sich für ihre Entscheidung, die Doktorandenstelle in Berlin anzutreten oder sich statt dessen für unbestimmte Zeit weiter um ihre auf die Pubertät zusteuernde Schwester zu kümmern, bei dem Professor Bedenkzeit ausgebeten, die freilich schon wegen der gesetzten Bewerbungsfrist begrenzt ist.
Das Nächstliegende wäre nun zu schauen, ob Tilda ihre kleine Schwester innerhalb dieses Zeitrahmens fit bekommt. Sie müsste lernen, alleine zur Schule zu gehen und nicht zu verhungern, wenn die Mama tagelang auf Eis liegt. Dieser Idee folgt der Film nicht. Das heimische Chaos wird sogar noch gesteigert.
Während im Buch die volltrunkene Mutter das Essen auf dem Herd einfach vergisst, was nicht weiter schlimm ist, weil Ida es gewohnt ist, bei Qualm in der Küche den Herd abzustellen, wird in der Verfilmung durch Regisseurin Mia Maariel Meyer der Herd auf Gas umgerüstet. So kocht der Saufraß nicht nur über, es brennt auch noch lichterloh, und Mama steht mit einer großen Pulle Rotkäppchen inmitten von Qualm und Flammen und löscht kurzerhand das Feuer mit schäumendem Sekt.
Immer, wenn sie totale Scheiße gebaut hat, entschließt sich die Mutter danach, auf alle Zeit mit dem Trinken aufzuhören. Dann kocht sie genießbare Sachen, liest der Kleinen abends etwas vor (das hat sie im Studium gelernt) und hält die Wohnung sauber – bis zum nächsten Rückfall oder dem nächsten Suizidversuch.
Trotz der durchweg widrigen Umstände gelingt es Tilda, die kleine Schwester mental auf ihre zukünftige Abwesenheit vorzubereiten, sie psychisch fit zu machen. Dies plausibel und zugleich nur recht sparsam emotional darzustellen, ist das, was den Film für mich sehenswert macht. Was genervt hat, sind die periodischen Erinnerungen des Professors an die ablaufende Frist. Aber selbst das ist irgendwie in Ordnung. Zu perfekt taugt auch nix. Kino ist schließlich nicht RTL.
»22 Bahnen«, Regie: Mia Maariel Meyer, BRD 2025, 102 Min., Kinostart: heute
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