Rotlicht: Tabu
Von Felix Bartels
Ein Exportschlager aus Ozeanien. »Tabu« kommt von »tapu«, was im polynesischen Kulturkreis ein heiliges Verbot bezeichnet. Darin schon liegt der erste Hinweis. Ohne quasi-religiöse Überformung kann kein Tabu bestehen. Zu sagen, etwas sei tabu, bedeutet nicht dasselbe wie etwas sei verboten. Das Tabu ist eine besondere Spielart des Verbots, toxischer, neurotischer, paradox und komplikativ. Es wird nicht begründet, es gilt als selbstverständlich, es ist religiös aufgeladen und psychologisch angetrieben.
Das ordinäre Verbot präsentiert sich offen, in Form eines Gesetzes, einer Regel oder Anordnung. Ein Tabu kann nicht angeordnet sein, weil es bei dieser Sorte Verbot gerade darum geht, über den Gegenstand des Verbots nicht zu sprechen. Ein Tabu aussprechen heißt das Tabu brechen. Die Sache wird nicht einfach verboten, sie soll gar nicht erst in der Welt sein. Der entschiedene Bann riefe gerade die Scham auf, die vermieden werden soll, weil die Scham schon durch die Frage überhaupt entsteht.
So liegen denn auch die Wurzeln eines Tabus meist im Dunkeln und können nur rekonstruiert werden. Freud schreibt in »Totem und Tabu«, dass die Gründe nicht im kollektiven Bewusstsein enthalten sind. Das Tabu sei daher ebenso unverständlich wie selbstverständlich. Unverständlich für den, der Begründung erwartet, selbstverständlich für den, der unter ihm leben muss. Freud nennt es einen Kategorischen Imperativ unter Zwang, der »jede bewusste Motivierung ablehnt«. Wer ein Tabu begründet, stellt es in Frage, denn wo eine Begründung gegeben wird, scheint zumindest die Möglichkeit einer Anfechtung gegeben. Zudem setzt jede Begründung, wie wasserdicht immer, ihren Gegenstand einer Bewertung aus. Ein Tabu aber besitzt sakralen Charakter, und es liegt im Wesen des Sakralen, dass es nicht bewertet werden darf.
Doch natürlich hat jedes Tabu Gründe. Hier wäre zu unterscheiden zwischen Ursprung und Funktion. Die sich decken können, aber nicht müssen. Ein Tabu tritt unter bestimmten Bedingungen in die Welt, es bleibt als etabliertes Element der Kultur bestehen, mitunter gar, wenn die Umstände seiner Entstehung verschwunden sind. Späterhin kann es moderne Funktionen übernehmen und abgelöst von seinem archaischen Ursprung fortleben.
Jedes Tabu ist gesellschaftlich. Da es aber tiefer reicht als das Verbot, kann es sich nur durch eine Bereitschaft bei denen festigen, über die es Herrschaft ausübt. Es muss affektiv besetzt sein. Mit Scheu, Scham oder Ekel. Nur dort, wo gesellschaftliche Konvention auf seelische Abwehrhaltung trifft, kann Verbot Tabu (nicht ausgesprochen oder auch bloß gedacht) werden. Tabus sind oft Ergebnis eines Kampfs zwischen Trieb und Triebabwehr. Inzest etwa enthält Begehren, der Ekel davor legt sich als tradiert entwickelter Komplex über den Trieb. Tradiert, weil das Inzestverbot kulturgeschichtlich verankert ist. Entwickelt, weil jedes heranwachsende Individuum das Verbot erst lernen muss: Das tut man nicht, daran denkt man nicht mal. Begehren zwischen Geschwistern kann ebenso entstehen wie zwischen Menschen verschiedener Familien. Es verbietet sich allerdings derart, dass es sich sogar vor sich selbst verbietet. Es wird intensiv verdrängt und selbst vor sich selbst geleugnet. In der Familie untersagt man die Inzesthandlung nicht, weil das hieße, die Möglichkeit dieses Begehrens zuzugeben.
Es gibt auch Tabus ohne archaische Wurzeln. Genuin moderne Tabus. Ein Beispiel wäre die Rede von der »wehrhaften Demokratie«, die den internen Widerspruch demokratischer Ideologie verdeckt, indem man behauptet, dass die Demokratie vermittels Beschneidung vor ihren Feinden geschützt werden müsse, während es tatsächlich sie selbst ist, vor der die Gesellschaft geschützt werden muss. Das demokratische Prinzip hat keinen Inhalt: Es regiere, wer immer eine Mehrheit bilden kann. Ein anderes modernes Tabu war das »Don’t ask, don’t tell« im US-Militär. Es hat Homosexualität nicht verboten, sondern durch Schweigen aus der Welt geschafft. Wenn über etwas nicht gesprochen wird, ist es, als sei es nicht da.
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