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Aus: Ausgabe vom 03.09.2025, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Im Umkreis des Unheimlichen

Am 30. August endete im Hebbel am Ufer die 37. Ausgabe des Festivals »Tanz im August«
Von Martin Göddeler
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Die Rhetorik des »Dies, und das andere auch«: Nguyễn + Transitory

Man kennt das, und schön ist es nicht: Das Geläufigste wird um so pompöser vorgetragen, je abgenutzter es ist. Die künstlerische Leitung des Berliner Festivals »Tanz im August« im Hebbel am Ufer zeigte sich wieder sehr beholfen im Umgang mit zeitgemäßen Schibboleths. Leichtgängig wurden Möglichkeitsräume zwischen »flow« und »friction«, Tektonik und »Fluidität« aufgemacht, in denen das »Superpolitische« ganz besonders phantasievoll wird. Gemeinsam sei den diesjährigen Ko- und Eigenproduktionen, Uraufführungen oder deutschen Premieren Offenheit und Hybridität, Unreinheiten und Intensitäten, eine »Vielheit von Kollektivitäten«.

»Shifting«, »divers«, »fluid« – das trifft auf die Produktionen von Adam Linders insofern zu, als dieser stets intersektionell kooperiert. Für »TOURNAMENT« hat er mit Ethan Braun gearbeitet, dessen Kompositionen vom Solistenensemble Kaleidoskop eher verkörpert als gespielt werden, schließlich waren die fünf Streicher am titelgebenden Kampf mit den Tänzern auf einer leuchtenden Stufenpyramide beteiligt. »Borda« von Lia Rodrigues und der Companhia de Danças begann in einem extrem abgedunkelten Umraum. Ein fahler Spalt im Bühnenvorhang wurde sehr langsam zu einem starren Wolkenbild, in das sich alles Mögliche hineinimaginieren ließ. Mit hochziehendem Licht wurden Folien und helle Stoffe unterscheidbar, die sich langsam tatsächlich zu bewegen begannen. Gebilde bauschten sich auf oder stülpten sich aus, aber es dauerte noch etwas, bis die Tänzer sichtbar wurden. Und dann drehte sich aus der fahlen Szenerie ein bunter, lauter Karneval, der wie eine saudiarabische Interpretation einer campen Jack-Smith-Vorlage wirkte.

Inka Romanís »Fandango Re-loaded« bezog sich auf den Volkstanz, der unter Franco zum Nationalheiligtum runtergezähmt werden sollte. Der »Reload« der komplizierten Schrittfolgen, der vor allem die Füße und Beine beschäftigt, war choreographisch ergiebig. Kastagnetten, bunte Bänder und Männer in kräftig gestreiften Röcken hielten die zeitgenössische Ebene folkloristisch in Grenzen.

Rückgriffe auf Tradition, Wurzeln, ethnische Spezifika waren in diesem Jahr ein häufiges Anliegen. Auffällig war aber auch, dass sich das Tänzerische immer stärker in Performance-Spielarten auflöst. Das erfordert wiederum vielseitige Performer, die nicht nur über die Ausdauer der Sportler und das Training der Tänzer, sondern auch über die Fähigkeit verfügen müssen, mimische und stimmliche Ebenen mitzugestalten oder ein Musikinstrument zu spielen. In Jeremy Nedds »from granite to rock … aka how magnolia was taken for granite« fiel diese Rolle einer schwerfälligen Frau zu. Aber der tänzerisch am wenigsten Ausgebildeten gelang es, das gestische Leitmotiv, »Spanking«, am überzeugendsten umzusetzen. Bei den anderen wirkte die abrupt ausschwingende Armbewegung wie die Repetition eines modernistischen Bewegungsstandards.

Reichhaltiger ging es in Marlene Monteiro Freitas’ »NÔT« zu. Auf einer offenen Bühne mit Lazarett- oder Kasernenbetten bewegten sich die Performer in den Umkreis des Unheimlichen, Ekligen und Schrecklichen hinein, mit Pantomimen, Gesängen oder häuslichen Utensilien, die zu Schlaginstrumenten oder Kampfmitteln wurden. Das war monoton oder fast opernhaft, verlangsamt oder hibbelig und flackernd wie im Butoh.

Es war immer wieder interessant zu sehen, wie selbst in konzeptuell gezügelten Choreographien einzelne Performer plötzlich viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In »NÔT« waren das Ben Greens und Rui Paixãos, die durch die Rapidität ihrer mikromimischen Fähigkeiten herausragten. Auch solche Qualitäten begründen Diversitäten, und es ist zu wünschen, dass das aufs Programm der Berliner Volksbühne abfärbt, das Freitas bald mitbestimmt.

Typischer waren in diesem Jahr aber verbal ausagierte Spagate. In Xan Dyes »I am rooted but I flow« wies schon der Titel darauf hin, dass sich nonbinäre, queere, neurodivergent-positive Zwischenräume aus Gegensätzen ergeben werden. Im Stück von Nguyễn + ­Transiory wurde das Queeridentitäre mit thailändischen Volkstänzen verschnitten. Die Rhetorik des »Dies, und das andere auch« ist sehr geübt darin, den logischen Widersprüchen identitärer Setzungen auszuweichen. Selbst »Volk« kann dann – als Folk – zum Namen größter Inklusivität werden, die nicht nur nichts ausschließt, sondern derart beweglich und offen ist, dass sogar utopische Formen von Zugehörigkeit denkbar werden.

Letzteres hat Ligia Lewis in Zusammenhang mit »Some Thing Folk« behauptet und ihrer Arbeit weitere Aussagen dieser Art vorangestellt. Verblüffend war dann aber, wie wenig das reale und mit Tänzern der schwedischen Kompanie Cullberg erarbeitete Stück darin aufging. Es war eines der besten beim »Tanz im August«. Nicht nur, dass sich im Grunde recht wenig Gemeinsamkeit und Interaktion zwischen Körpern ereignete. Die Bewegungsprofile oder stimmlichen Ereignisse schienen vielmehr aus dem Umkreis der Spastiken und Psychosen abgeleitet. Da war sie dann, die oft beschworene Intensität, und eine schöne Überraschung am letzten Tag dieses Festivals.

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