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Aus: Ausgabe vom 03.09.2025, Seite 10 / Feuilleton
Jazz

Probieren, studieren, transkribieren

Gregg Belisle-Chi bricht die komplizierte Klangwelt von Tim Berne auf sechs Saiten herunter
Von Andreas Schäfler
10 (c) Robert Lewis.jpg
Erkennen und verstehen: Gitarrist Gregg Belisle-Chi (l.) und Saxophonist Tim Berne

Tim Bernes Platten aus den 1990er Jahren, als er mit einer Formation namens Caos Totale musizierte, sind durchaus noch in Erinnerung. Das war eine Spielart von Jazz, mit der man unwillkürlich fremdelte, obwohl doch die angesagtesten Young Lions der Szene mitwirkten. Musik, die jedem Groove aus dem Weg ging, hohe Dosen an Konzentration einforderte und mit Belohnung geizte. Sounds für die verbildeten Stände womöglich, etwas für die ganz neuen Wilden. Tim Berne war jedenfalls ein waschechter musician’s musician und ist es bis heute geblieben.

Gregg Belisle-Chi (Sohn kanadisch-chinesischer Eltern) war ein waschechter College Boy aus Richland, Washington, der auf der Rockgitarre Hendrix und Nirvana nacheiferte, bis er als 18jähriger Tim Bernes Album »Science Friction« in die Finger bekam. Da sei es plötzlich nicht mehr darum gegangen, Musik zu hören, sondern von Musik gehört zu werden: sich von ihr erkannt, verstanden und als Person akzeptiert zu fühlen. Ein geradezu märchenhafter Spiegelreflex angesichts der entlegenen stilistischen Sparte, in der er sich ereignete. Belisle-Chi zog unverzüglich nach New York City ins Mekka der frei improvisierten Musik, um der Sache beim Meister persönlich auf den Grund zu gehen.

Besagter Tim Berne war als junger Altsaxofonist aus Oregon selbst eher zufällig in diese musikalische Nische geraten. Eines Tages bekam der eingefleischte R-’n’-B- und Soul-Fan mit, was ein gewisser Julius Hemphill mit diesem Instrument anstellte. Das Erweckungserlebnis katapultierte ihn umgehend nach NYC, wo er Hemphills gelehriger Schüler wurde und seinen Horizont noch dazu bei Anthony Braxton erweiterte. Probieren, studieren, transkribieren: So ging und geht das nun mal in diesen Kreisen, wo Aneignung und Weitergabe von seltenem musikalischem Vokabular gern in lebenslange Prozesse ausarten.

»Slow Crawl« ist (nach »Koi« vor vier Jahren) bereits die zweite Kostprobe von Gregg Belisle-Chis solistischen Versuchen, den komplexen Kosmos von Tim Bernes Kompositionen auf die Stahlsaitenbespannung einer akustischen Gitarre herunterzubrechen. Eigensinnig und versponnen klingen die flüchtigen Melodiefetzen und unerwarteten Verdichtungen noch immer, aber Belisle-Chis unorthodoxes Zehnfingersystem spinnt ein erstaunlich tragfähiges Netz, dem man sich vertrauensvoll ausliefert. Mal weht ein Motiv herbei, aus dem Nick Drake vielleicht einen Song gestrickt hätte, dann meint man kurz, einem Ragtime à la Bix Beiderbecke aufzusitzen – doch schon ist die Assoziation wieder verglüht, denn ein Tim Berne legt sich bekanntlich ungern fest.

Was auch bedeutet, dass Gregg Belisle-Chi sich hier als ein Gitarrist bewähren muss, der kaum etwas von dem spielen darf, was man auf diesem Instrument gemeinhin unter die Finger nimmt. Dafür aber praktisch alles andere: Töne, die sonst ausgespart bleiben, Tonfolgen, die so nicht vorgesehen sind. Doch anders lässt sich der fast schon absurde Formenreichtum von Bernes Klangwelt gitarristisch nicht erschließen. Und Belisle-Chi nimmt nun wirklich jeden Umweg in Kauf, um Stück für Stück und am Ende erfolgreich hinter die entscheidenden Geheimnisse zu steigen.

Als reumütiger Wiederhörer der Musik von Tim Berne gewinnt man so tatsächlich mehr als nur eine Ahnung von ihrem Zauber – und lernt in Gregg Belisle-Chi obendrein einen hochinteressanten Gitarristen kennen, der aus guten Gründen von Kollegen wie Bill Frisell, Nels Cline und Ben Monder geschätzt und protegiert, sprich: auch zu so extremen Schandtaten wie dieser ermuntert wird. Und der neben Tim Berne auch noch andere Hausgötter hat und in zahlreiche weitere Projekte verstrickt ist. Wenn es um die Wurst der schieren Existenz geht, kann man von delikater Minderheitenmusik allein nicht überleben, schon klar. Für mündige und nimmersatte Endverbraucher wie Sie und mich ist »Slow Crawl« aber ein gefundenes Fressen.

Gregg Belisle-Chi, »Slow Crawl: Performing the Music of Tim Berne« (Intakt)

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