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Aus: Ausgabe vom 02.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrien

Auswählen statt wählen

Syrien: Dschihadistischer Machthaber behält volle Kontrolle über im September angesetzte Abstimmung
Von Karin Leukefeld
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Islamist in Nadelstreifen: Al-Scharaa behält die Zügel in der Hand (Damaskus, 27.7.2025)

Nach Angaben der Nationalen Wahlkommission sollen die Wahlen für das syrische Parlament vom 15. bis zum 20. September stattfinden. Nach dem Sturz von Präsident Baschar Al-Assad und der Machtübernahme am 8. Dezember 2024 hatte Ahmed Al-Scharaa, bis dato bekannt als Abu Mohammed Al-Dscholani, Gründer und Führer der Al-Qaida-nahen dschihadistischen Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), das Parlament, Armee sowie Polizei aufgelöst und alle Parteien verboten. Im Januar wurde er bei »einem Treffen einflussreicher politischer und militärischer Funktionäre« zum »Interimspräsidenten« ernannt. Mitte März 2025 unterzeichnete Al-Scharaa eine Interimsverfassung. Sie soll fünf Jahre gelten.

Allerdings werden die Abgeordneten nicht von den wahlberechtigten syrischen Bürgerinnen und Bürgern gewählt. Schon in der Interimsverfassung war festgelegt worden, dass die 210 Parlamentarier ernannt werden sollen. Al-Scharaa wird demnach 70 Personen ernennen. Die anderen 140 werden in lokalen Gremien von Wahlleuten nominiert, kontrolliert von einem im Juni per Präsidialdekret eingesetzten Komitee. Diese Gremien setzen sich demnach aus je 30 bis 50 Fachleuten, Akademikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammen, die Wahlprogramme erstellen und diese bei öffentlichen Debatten vortragen sollen. Al-Scharaa behält somit die Kontrolle über die Wahlen.

Schon im Juli wies der unabhängige syrische Journalist Omar Al-Hariri darauf hin, dass die Bevölkerung nach mehr als einem Jahrzehnt des Krieges innerhalb und außerhalb des Landes verstreut sei. Es gebe »keine aktuelle Volkszählung, kein vollständiges Melderegister, und Millionen Menschen verfügen nach wie vor nicht über ordnungsgemäße Ausweispapiere«, erklärte er gegenüber TRT World. Unter solchen Bedingungen sei es logistisch »nahezu unmöglich«, ordentliche Wahlen durchzuführen. Um »externen Anforderungen« zu genügen, sollen internationale Wahlbeobachter hinzugezogen werden. Der Vorgang zeige »vollständige Wahltransparenz« und ermögliche es der Regierung, »die Ergebnisse besser vorhersehbar zu gestalten«.

Der türkische Professor für internationale Beziehungen an der Osmangazi Universität von Eskişehir, Mustafa Yetim, erklärte, dass eine indirekte Wahl angesichts der schwierigen Bedingungen eine »bedeutende Verbesserung« sei, verglichen mit Wahlen unter dem »früheren repressiven Baathisten-Regime«. Bis Dezember 2024 fanden in Syrien alle vier Jahre Parlamentswahlen statt, die Yetim als Scheinwahlen bezeichnete. Al-Scharaa versuche mit den Wahlen seine Position zu stärken, um die staatlichen Institutionen neu aufbauen, ferner Syrien in die »internationale Gemeinschaft« integrieren zu können.

Das neue Parlament soll alle drei Jahre neu ausgewählt werden und vor allem die »juristische Seite des Übergangsprozesses« in Syrien organisieren, also Reformen diskutieren und ihnen zustimmen, letztlich der Interimsregierung auch international zu Anerkennung verhelfen, so Yetim weiter. Letztere ist auf Geldspritzen und militärische sowie diplomatische Zusammenarbeit angewiesen. Nach erfolgreichen Wahlen könnten Staaten die Zusammenarbeit mit der syrischen Führung wiederaufnehmen. Das Kabinett Al-Scharaa würde zum »stabilen und ernstzunehmenden Akteur« in der Region.

Ursprünglich sollten auf diese indirekte Weise in allen 14 Provinzen Syriens Kandidaten bestimmt werden. Inzwischen ist aber klar, dass Gebiete, die Damaskus nicht kontrolliert, von der Wahl ausgeschlossen werden. Das betrifft die Provinzen Kuneitra, Suweida, Rakka, Deir Al-Sor und Hasaka. Unklar ist, ob in den Küstengebieten von Latakia, Banias und Tartus Kandidaten für das Parlament ausgewählt werden. Am Wochenende haben syrische Repressionskräfte mehrere Personen in den mehrheitlich von Alawiten und Christen bewohnten Gebieten Syriens getötet. Sie sollen »Terrorzellen« angehört haben, legitimierten syrische Behörden, die dem Innenministerium unterstehen, das Massaker. In Damaskus wurden zeitgleich Hunderte Alawiten aus ihren Wohnungen im Stadtteil Sumarija vertrieben.

Hintergrund: Al-Scharaa-Clan baut Wirtschaft um

Die Familie von Ahmed Al-Scharaa, dem derzeitigen Machthaber in Damaskus, kontrolliert die wichtigsten Institutionen der syrischen Wirtschaft. Im Juli beschrieb Reuters ausführlich, wie Vermögenswerte in Milliardenhöhe von syrischen Geschäftsleuten, die mit dem vorherigen syrischen Staat kooperiert hatten, beschlagnahmt und in geheime Kassen umgeleitet werden.

Geleitet werde die umfassende Umstrukturierung der syrischen Wirtschaft, für die es keine juristischen Verfahren gebe, demnach von Hazem Al-Scharaa, dem älteren Bruder von Ahmed al-Scharaa. Sein Kompagnon soll Abu Mariam Al-Australi sein, ein libanesisch-australischer Geschäftsmann, gegen den bereits internationale Sanktionen verhängt wurden. Abgewickelt wird das Geschäft über einen geheimen Wirtschaftsausschuss.

Das Vorgehen sei mit einem »internen Wirtschaftsputsch« vergleichbar, zitierte Reuters einen namentlich nicht genannten »westlichen Geheimdienstmitarbeiter«. Die alte Wirtschaftselite werde zerschlagen und durch frische, gegenüber der neuen Interimregierung loyale Köpfe ersetzt. Dieser Befund decke sich mit Berichten von Geschäftsleuten, die vor den geheimen Wirtschaftsausschuss geladen wurden, und mit den Aussagen ehemaliger syrischer Beamter.

In Damaskus werde so nicht nur der Reichtum umverteilt, es werde ein neues Machtnetzwerk geschaffen, das über den Einfluss der alten reichen Familien hinausgehe. Auf diesem Wege versuche die Familie Al-Scharaa, ihre Herrschaft zu festigen: Eine neue Wirtschaftselite werde aufgepäppelt, dafür mancher Geldgeber umworben, die Loyalität anderer schlicht erzwungen und den zwischen Sanktionen und Korruption unter der Assad-Regierung reich Gewordenen ihre finanzielle Macht entzogen. Die Geschäftsleute der vorherigen Generation sollen beseitigt werden, resümieren die Geheimdienstler.

Große wie kleine Kapitalisten Syriens seien gezwungen worden, beträchtliche Summen an zivile Projekte des neuen Staates zu »spenden«, meist ohne rechtlichen Vertrag. Andernfalls, habe die neue Regierung ihnen gedroht, wäre ihnen der Marktzugang versagt, ihr Geschäft ruiniert worden. Diese Zahlungen seien als »nationale Beiträge« oder »wirtschaftliches Zakat« bezeichnet worden. Zakat ist eine der fünf Säulen des Islam, die Pflicht für Muslime, einen bestimmten Teil ihres Besitzes an Arme, Bedürftige oder an einen festgelegten Personenkreis abzugeben. Die betroffenen Geschäftsleute sprachen demgegenüber von einer »Loyalitätssteuer«. Auf Nachfrage erhielt jW die Antwort, das sei »jedem Geschäftsmann in Damaskus bestens bekannt«. Das alles steht gewissermaßen nicht zur Wahl. (kl)

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