»Eine Versöhnung wurde nie zugelassen«
Interview: Kristian Stemmler
Seit April sind Sie in brieflichem Kontakt mit Tatjana Andrijeca, einer jungen Frau aus Lettland, die dort zur Minderheit der Russischstämmigen gehört. Was wird Ihr vorgeworfen?
Die Studentin Tatjana steht unter dem absurden Generalverdacht, den Fortbestand des lettischen Staates zu gefährden. Sie steht aktuell in Riga vor Gericht, war bereits 2023 acht Monate in Untersuchungshaft.
Sie soll eine kriminelle Vereinigung gegründet haben, den Telegram-Kanal »Baltic Antifascists«, der die lettische Regierung kritisiert. Was ist dran?
Dieser Vorwurf liegt dem Verfahren zugrunde. Vor Gericht wurde aber bisher klar: Es gibt weder Beweise noch Zeugenaussagen, die den Vorwurf erhärten. Tatjana ist unschuldig.
Der lettische Geheimdienst hat sich schon früh für die junge Frau interessiert, was offenbar mit einem Auftritt von ihr im Alter von 17 Jahren im Parlament zu tun hat. Wie hatte sie sich damals verhalten?
Anders als von ihr erwartet, spielte Tatjana im Parlament nicht die junge Vorzeigerussin, die das lettische Schulsystem preist und dafür plädiert, die noch bestehenden russischen Schulen zu schließen. Der übermächtige lettische Staatssicherheitsdienst verstand das wohl als Kriegserklärung des Mädchens an den Staat. Tatjana hatte aber nur darauf vertraut, dass Wahrheit und Meinungsfreiheit im Parlament etwas gelten.
Nach ihrer Rückkehr aus St. Petersburg, wo sie studiert hatte, wurde Andrijeca 2023 festgenommen und kam in U-Haft. Dort bekam sie Besuch von Männern mit Sturmhauben. Wieso das?
Das war das Szenario eines stümperhaften Gangsterfilms. Tatjana wurde, man kann es nicht anders sagen, psychischer Folter ausgesetzt. Sie sollte Dinge gestehen, die sie nie getan hatte, und sie sollte andere denunzieren. Alles unter der Androhung, sie komme sonst »nie wieder hier raus«. Diese Folter hinterließ in Tatjanas Gesundheit bis heute deutliche Spuren.
Weshalb sprechen auch Sie in diesem Fall von einem Justizskandal?
Der Skandal ist mehrschichtig. Der Staatssicherheitsdienst setzt durch, dass Gesetze, die gegen Schwerverbrechen erlassen wurden, brutalst gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung angewendet werden. Der Staatssicherheitsdienst ist der unsichtbare Elefant in fast jedem Gerichtssaal. Eine junge Frau wird zur Verwarnung ohne Urteil acht Monate in den Knast gesperrt. Bei aller gebotenen Zurückhaltung drängt sich der Eindruck auf, die Justiz in Lettland passe eher zu einem autoritären Unrechtsstaat als zu einem freien, demokratischen Land, zumal einem Mitgliedsland der EU.
Was halten Sie davon, wenn von einer in Lettland herrschenden Russophobie gesprochen wird?
Das Zusammenleben von Letten und Russen erscheint als eine beispiellose Tragödie. Auf eine Formel gebracht: Die Behandlung der ethnischen Russen ist die irrationale Rache der angestammten Letten an der vor 35 Jahren untergegangenen Sowjetunion, auf ewig vollzogen an den im Land lebenden Russen. Eine Versöhnung wurde nie versucht, wurde nie zugelassen. Seit dem Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine ist der Alltag der russischen Minderheit, immerhin etwa 30 Prozent der Bevölkerung, mehr denn je geprägt von Schikanen, Verfolgung, Angst.
Sind Ihnen ähnliche Fälle bekannt?
Ein anwaltliches Exposé nennt eine Vielzahl von politischen Gefangenen in Lettland mit abscheulich langen Haftstrafen. Menschen, die für etwas büßen, das in einem freien Land als freie Meinungsäußerung rechtens ist. Gesundheitliche Probleme spielen keine Rolle, seit 2023 sind drei politische Gefangene im Gefängnis gestorben.
Wie geht es für Andrijeca vor Gericht jetzt weiter, und welches Urteil befürchten Sie?
Tatjana wird trotz ihrer jetzt schon offenkundigen Unschuld weiter im Verfahren gehalten, bis Oktober sind noch vier Gerichtstage angesetzt. Ihr droht eine lebenslange Freiheitsstrafe.
Was können Menschen tun, die ihr helfen möchten?
Je mehr Öffentlichkeit, um so größer die Chancen für Tatjana. Auf unserer Website zeigen wir, was man tun kann. Unter anderem kann man Briefe an die lettische Justizministerin schreiben.
Klaus Schittich ist Menschenrechtsaktivist in Freiburg und verantwortlicher Redakteur des Portals worldcitizens.de
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (2. September 2025 um 02:05 Uhr)»Die Behandlung der ethnischen Russen ist die irrationale Rache der angestammten Letten an der vor 35 Jahren untergegangenen Sowjetunion, auf ewig vollzogen an den im Land lebenden Russen. Eine Versöhnung wurde nie versucht, wurde nie zugelassen.« Also mit Formulierungen wie »ewig« würde ich nach dem »tausenjährigen Reich« doch etwas vorsichtiger sein. Selbstverständlich wurde Versöhnung zugelassen und jahrzehntelang praktiziert, nämlich in der UdSSR. Während meiner zweijährigen Aspirantur am Leningrader Konservatorium wurde ich von einem lettischen Professor (Arvid Jansons) im Hauptfach unterrichtet, gemeinsam auch mit lettischen Studenten, die zufälligerweise im Studentenwohnheim im Zimmer gegenüber wohnten. Daher weiß ich aus erster Quelle, welche Formen die Versöhnungen zwischen den Bewohnern unseres Wohnheims annahmen. Wir verstanden uns alle blendend. Es gab keinerlei Probleme. Allerdings hatten Wehrmacht und SS während der deutschen Besatzungszeit in Lettland zehn Familienmitglieder von Frau Jansons umgebracht. Mit Deutschland, welches dies veranlasste, hat nun Lettland verständlicherweise keine Probleme, da ja eigene SS‑Einheiten bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung halfen. Für die SS wurden dann nach 1990 Denkmäler in Lettland errichtet. Deutschen, die dagegen protestieren wollten, sperrte man (Schegen hin – Schengen her) die Einreise. Mit solchen Deutschen wollen die Letten keine Versöhnung. Nach Mitgliedschaft in der EU verlor das Land dann zwei Fünftel der Bevölkerung. In den baltischen Staaten gibt es seit der Mitgliedschaft in der EU einen wirtschaftlichen Niedergang, wie er weder im Zarenreich noch in der UdSSR denkbar gewesen wäre. Niedergang steht auch der deutschen Wirtschaft bevor, die es sich gleichzeitig mit Russland und China verscherzt. Ob es für »ewig« keine Versöhnung gibt, hängt vom Umfang dieses Niedergangs in den nächsten Jahrzehnten ab. Tieferes Nachdenken braucht praktische Nachhilfe. Die Russen handelten in ihrer Geschichte in der Gesamtrelation gegenüber Ausländern wesentlich humaner, als umgekehrt ausländische Mächte gegenüber Russen. Wenn Stalin baltische Kollaborateure mit Hitler verfolgte, so war das notwendig, obwohl es auch Unschuldige traf. Aber in deutscher Kriegsgefangenschaft verhungerten beabsichtigt Hunderttausende (!) Soldaten der Roten Armee, darunter auch Tausende Letten, die auf der Seite Moskaus kämpften. Wer erinnert sich an diese Letten? Der gesteuerte Hass auf Russland, während man sich gleichzeitig mit Deutschland verbündet, ist für mich unverständlich und höchst unsympathisch. Der deutsche Dirigent Hermann Scherchen wurde im August 1914 bei einem Gastdirigat in Riga vom Beginn des Weltkrieges überrascht und als Ausländer in Lettland sofort interniert und in die Verbannung geschickt, da Lettland zum Russischen Reich gehörte. Am Verbannungsort lebte er in einer privaten Unterkunft, erteilte Violinunterricht und gründete ein kleines Orchester, dessen Konzerte trotz Gegnerschaft mit Deutschland rege besucht wurden. Die Oktoberrevolution, die er begrüßte, erlebte er dann in Petrograd. Nach Kriegsende leitete er in Wien u. a. Arbeiterchöre und war ein Wegbereiter zeitgenössischer Musik. Kulturelle Zusammenarbeit trotz Krieg ist bei gutem Willen also durchaus möglich, aber nur, wenn guter Wille nicht durch Bösartigkeit und Schikanen ersetzt wird.
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