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Aus: Ausgabe vom 02.09.2025, Seite 2 / Ausland
Politische Gefangene in Lettland

»Eine Versöhnung wurde nie zugelassen«

Lettland: Angehörige der russischen Minderheit wegen angeblicher Gefahr für Fortbestand des Staates vor Gericht. Ein Gespräch mit Klaus Schittich
Interview: Kristian Stemmler
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Weil sie den oppositionellen Telegram-Kanal »Baltic Antifascists« gegründet haben soll, hält die lettische Justiz die russischstämmige Studentin in Untersuchungshaft

Seit April sind Sie in brieflichem Kontakt mit Tatjana Andrijeca, einer jungen Frau aus Lettland, die dort zur Minderheit der Russischstämmigen gehört. Was wird Ihr vorgeworfen?

Die Studentin Tatjana steht unter dem absurden Generalverdacht, den Fortbestand des lettischen Staates zu gefährden. Sie steht aktuell in Riga vor Gericht, war bereits 2023 acht Monate in Untersuchungshaft.

Sie soll eine kriminelle Vereinigung gegründet haben, den Telegram-Kanal »Baltic Antifascists«, der die lettische Regierung kritisiert. Was ist dran?

Dieser Vorwurf liegt dem Verfahren zugrunde. Vor Gericht wurde aber bisher klar: Es gibt weder Beweise noch Zeugenaussagen, die den Vorwurf erhärten. Tatjana ist unschuldig.

Der lettische Geheimdienst hat sich schon früh für die junge Frau interessiert, was offenbar mit einem Auftritt von ihr im Alter von 17 Jahren im Parlament zu tun hat. Wie hatte sie sich damals verhalten?

Anders als von ihr erwartet, spielte Tatjana im Parlament nicht die junge Vorzeigerussin, die das lettische Schulsystem preist und dafür plädiert, die noch bestehenden russischen Schulen zu schließen. Der übermächtige lettische Staatssicherheitsdienst verstand das wohl als Kriegserklärung des Mädchens an den Staat. Tatjana hatte aber nur darauf vertraut, dass Wahrheit und Meinungsfreiheit im Parlament etwas gelten.

Nach ihrer Rückkehr aus St. Petersburg, wo sie studiert hatte, wurde Andrijeca 2023 festgenommen und kam in U-Haft. Dort bekam sie Besuch von Männern mit Sturmhauben. Wieso das?

Das war das Szenario eines stümperhaften Gangsterfilms. Tatjana wurde, man kann es nicht anders sagen, psychischer Folter ausgesetzt. Sie sollte Dinge gestehen, die sie nie getan hatte, und sie sollte andere denunzieren. Alles unter der Androhung, sie komme sonst »nie wieder hier raus«. Diese Folter hinterließ in Tatjanas Gesundheit bis heute deutliche Spuren.

Weshalb sprechen auch Sie in diesem Fall von einem Justizskandal?

Der Skandal ist mehrschichtig. Der Staatssicherheitsdienst setzt durch, dass Gesetze, die gegen Schwerverbrechen erlassen wurden, brutalst gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung angewendet werden. Der Staatssicherheitsdienst ist der unsichtbare Elefant in fast jedem Gerichtssaal. Eine junge Frau wird zur Verwarnung ohne Urteil acht Monate in den Knast gesperrt. Bei aller gebotenen Zurückhaltung drängt sich der Eindruck auf, die Justiz in Lettland passe eher zu einem autoritären Unrechtsstaat als zu einem freien, demokratischen Land, zumal einem Mitgliedsland der EU.

Was halten Sie davon, wenn von einer in Lettland herrschenden Russophobie gesprochen wird?

Das Zusammenleben von Letten und Russen erscheint als eine beispiellose Tragödie. Auf eine Formel gebracht: Die Behandlung der ethnischen Russen ist die irrationale Rache der angestammten Letten an der vor 35 Jahren untergegangenen Sowjetunion, auf ewig vollzogen an den im Land lebenden Russen. Eine Versöhnung wurde nie versucht, wurde nie zugelassen. Seit dem Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine ist der Alltag der russischen Minderheit, immerhin etwa 30 Prozent der Bevölkerung, mehr denn je geprägt von Schikanen, Verfolgung, Angst.

Sind Ihnen ähnliche Fälle bekannt?

Ein anwaltliches Exposé nennt eine Vielzahl von politischen Gefangenen in Lettland mit abscheulich langen Haftstrafen. Menschen, die für etwas büßen, das in einem freien Land als freie Meinungsäußerung rechtens ist. Gesundheitliche Probleme spielen keine Rolle, seit 2023 sind drei politische Gefangene im Gefängnis gestorben.

Wie geht es für Andrijeca vor Gericht jetzt weiter, und welches Urteil befürchten Sie?

Tatjana wird trotz ihrer jetzt schon offenkundigen Unschuld weiter im Verfahren gehalten, bis Oktober sind noch vier Gerichtstage angesetzt. Ihr droht eine lebenslange Freiheitsstrafe.

Was können Menschen tun, die ihr helfen möchten?

Je mehr Öffentlichkeit, um so größer die Chancen für Tatjana. Auf unserer Website zeigen wir, was man tun kann. Unter anderem kann man Briefe an die lettische Justizministerin schreiben.

Klaus Schittich ist Menschenrechtsaktivist in Freiburg und verantwortlicher Redakteur der des Portals worldcitizens.de

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