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Aus: Ausgabe vom 02.09.2025, Seite 1 / Titel
Sozialstaat

Können wir uns Merz noch leisten?

Koalition stellt sich für Beschlüsse zu Sozialkürzungen auf. Metallindustrie fordert pauschale Streichung von fünf Prozent aller Leistungen
Von Arnold Schölzel
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Merz in seinem Privatflugzeug auf dem Weg zur Hochzeit des damaligen Bundesfinanzministers Lindner auf Sylt (8.7.2022)

Am Mittwoch tagt der Koalitionsausschuss von CDU, CSU und SPD – die wichtigste politische Machtzentrale in der Bundesrepublik. Thema dürfte der »Herbst der Reformen« sein, also die Attacke auf staatliche Sozialleistungen. Am Montag nahm zudem die von Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) eingesetzte »Sozialstaatskommission« aus Vertretern von Bund, Ländern und Gemeinden ihre Arbeit auf. Ihr Schwerpunkt liegt laut einer Mitteilung des Bas-Ministeriums vom 21. August »auf steuerfinanzierten Leistungen wie Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag.« Damit dürften die Bereiche, aus denen Geld gepresst werden soll, benannt sein. Die Kommission soll das bis Ende des Jahres erledigt haben.

Am Wochenende hatten sich Kanzler Friedrich Merz (CDU), CSU-Chef Markus Söder und Bas, die auch SPD-Kovorsitzende ist, mit zum Teil markigen Formulierungen in Stellung gebracht, danach mischten sich Industrie und Handwerk ein. Am einfachsten machte es sich Gesamtmetall-Chef Oliver Zander, der in Bild verlangte: »Beim Sozialstaat muss zwingend gespart werden, zur Not mit einer pauschalen Kürzung aller Ausgabenposten um fünf Prozent.«

Das war noch kein Kettensägengefuchtel, entsprach aber dem Ansatz des Kanzlers. Er hatte am Sonnabend auf dem Landesparteitag der CDU Nordrhein-Westfalen (NRW) in Bonn an der antisozialen Gebetsmühle gedreht: »Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, mit dem, was wir wirtschaftlich erwirtschaften in der Bundesrepublik Deutschland, einfach nicht mehr leisten.« Das Land lebe seit Jahren über seine Verhältnisse, eine deutliche Reform des Bürgergeldes sei fällig. Am Sonntagvormittag erhob Bas Widerspruch. Auf einer Landeskonferenz der NRW-Jusos in Gelsenkirchen sagte sie: »Diese Debatte gerade, dass wir uns diese Sozialversicherungssysteme und diesen Sozialstaat finanziell nicht mehr leisten können, ist – und da entschuldige ich mich jetzt schon für den Ausdruck – Bullshit.« Am Vortag hatte sie allerdings bestätigen lassen, dass das Bürgergeld zum 1. Januar 2026 nicht erhöht wird, aber schärfere Sanktionen kommen. Bereits am Sonntag abend schlug daher das leichte SPD-Zucken in Strammstehen um. Bundesfinanzminister und SPD-Kochef Lars Klingbeil kündigte im ARD-»Bericht aus Berlin« eine »Reform« des Bürgergelds an. Totalverweigerer und Schwarzarbeiter müssten deutlich mehr Sanktionen erfahren: »Den Druck fahren wir hoch.« Eine Vorlage für Söder, der in der Augsburger Allgemeinen vom Montag »harte Reformen« verlangte: »Der Sozialstaat braucht ein grundsätzliches Update.«

Kritik an der geplanten Bürgergeld-Nullrunde übte die sozialpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke Cansin Köktürk. Sie sagte am Sonntag dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, das sei »ein unverantwortlicher Angriff auf das Existenzminimum«. Die Chefin des Sozialverbandes VdK Verena Bentele erklärte in der Rheinischen Post (Dienstag): »Eine weitere Nullrunde beim Bürgergeld bedeutet eine versteckte Kürzung … Wenn Menschen nur rund sechs Euro pro Tag für Lebensmittel zur Verfügung haben, ist offenkundig, dass das nicht reicht.« Sie warnte, eine Politik, die »einerseits Rekordschulden anhäuft und andererseits den Sozialstaat abbaut, öffnet populistischen Debatten Tür und Tor.« Nötig sei ein eindeutiges Bekenntnis zu einem »starken, gerechten und zukunftsfähigen Sozialstaat«. Der sei finanzierbar, »wenn die Politik endlich alle Gestaltungsräume nutzt und die Lasten gerecht verteilt«.

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  • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (2. September 2025 um 10:22 Uhr)
    Ist der bürgerliche Staat denn wirklich ein Staat für seine Bürger, also Ausdruck des sozialen Wesens einer Gesellschaft? »Sozialstaat« - wie schön das klingt, wenn in Wirklichkeit 3 Millionen Menschen ohne Arbeit und ein Fünftel aller Kinder arm sind. Wie sozial ist ein Staat noch, wenn er gezielt einen Großkrieg ansteuert, in dem alles Soziale verbrennen würde? Nein: Der Staat ist der Instrument, mit dem die herrschende Klasse ihre Pfründe gegen die Massen absichert. Mal mit Zuckerbrot, was dann als sozial bezeichnet wird und mal mit Peitsche. Es ist keine Frage, was von beiden jetzt beiseite gelegt und was an seiner Stelle fest in die Hände genommen werden soll. Dem kommt man nicht mit Klagen über den Abbau des Sozialstaates bei. Entweder, man setzt dem den geballten Widerstand der Massen entgegen oder man ergibt sich kampflos. Mit dem Organisieren dieses Widerstandes sieht es aber gegenwärtig in Deutschland außerordentlich schlecht aus.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Andreas E. aus z. Zt. Dedenitz/Steiermark/Österreich (2. September 2025 um 06:36 Uhr)
    Merz konnten wir uns noch nie leisten … Aber die Warnungen, die es im Vorfeld der Bundestagswahl gab, verhallten ungehört. Und die Partei »Die Linke« hatte nach dem historischen Debakel des ersten Wahlgangs nichts Besseres zu tun, als ganz schnell für den zweiten Wahlgang noch am selben Tag zu stimmen. Und es war doch abzusehen, dass dieses auch von der PDL im Bundesrat nicht verhinderte Riesenrüstungspaket auf Kosten des Sozialstaates gehen wird. Die Verelendung der Masse der Bevölkerung wird zu Gunsten der Rendite von Rüstungsaktionären weiter vorangetrieben. – Die Waffen liefern die Reichen, die Armen liefern die Leichen. Sollen jetzt die Bürgergeldempfänger in die Bundeswehr gepresst werden? Und wer verweigert, dem werden das Bürgergeld oder andere Sozialleistungen gestrichen? Dann wird aus dem diskutierten freiwilligen Wehrdienst ein wirklicher Zwangsdienst – ein Dienst aus sozialen Zwängen. Aber ob diese so ins Militär gepressten Menschen wirklich »motiviert« sind? Zum Sterben an die Front, um seiner Familie das Überleben zu sichern? Krieg als soziale Sicherungsmaßnahme – dieser Zynismus ist nicht auszuhalten. Dieser Logik können nur die folgen, denen es eh erstens zu gut geht und zweitens für die die Front maximal eine Linie auf einer Stabskarte ist. Sie werden nie Pulverdampf riechen und denen wird nie eine Kugel um die Ohren pfeifen. Obwohl sie es als Erstes verdient hätten …

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