Gegründet 1947 Donnerstag, 28. August 2025, Nr. 199
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 28.08.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Ein dunkler Ort

Landleben, Frauentausch und Folter: Mascha Schilinskis preisgekrönter Spielfilm »In die Sonne schauen«
Von André Weikard
11.jpg
In den Spiegel schauen: Lena Urzendowsky als Angelika

Vier Seiten hat der Hof. Vier undurchdringliche Hindernisse, die ein Entkommen nicht zulassen. Die Berlinerin Mascha Schilinski hat es mit »In die Sonne schauen«, ihrem Film über diesen Ort, in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes geschafft, dort gemeinsam mit »Sirāt« den Jurypreis gewonnen und tritt nun für Deutschland bei den Oscars an.

Es ist ein dunkler Ort. Für Frauen aus mehreren Generationen ist er die Hölle. Angefangen mit der zwangssterilisierten Magd Trudi (Luzia Oppermann), zu deren Aufgaben auf dem altmärkischen Gut es offenkundig gehört, den Männern sexuell zur Verfügung zu stehen, und die sich ständig begrabschen lassen muss, über Erika (Lea Drinda), die ihren beinamputierten Onkel Fritz (Filip Viktor Schnack) pflegt und befriedigt, bis zu Angelika (Lena Urzendowsky), die ein Verhältnis mit ihrem Onkel Uwe (Konstantin Lindhorst) hat.

Die episodischen Erzählungen aus unterschiedlichen Zeiten haben eins gemein: Frauen sind durchweg das Objekt männlicher Lust, werden fortwährend gedemütigt, ja gequält. Die Folter geschieht beiläufig, manchmal wird sie als Spiel kaschiert. Mal richtet Uwe den Sonnenschein, den seine Armbanduhr reflektiert, wie zufällig auf Angelikas Schoß, mal werden im Rasensprengerregen tanzende Kinder aus dem Augenwinkel gierig gemustert. Das angestarrte Geschlecht ist Freiwild und reagiert mit hysterischen Lachanfällen, linkischer Unsicherheit, verstocktem Schweigen und Todessehnsucht. Der Selbstmord liegt als Möglichkeit immer in der Luft. Mal stürzt sich eine vom Heuboden, mal vom Heuwagen. Oder verschwindet auf ewig im Flusswasser.

»In die Sonne schauen« entwickelt so einen morbiden erzählerischen Sog, der den Zuschauer für die Geschichte einnimmt. Das bäuerliche Milieu verschiedener Epochen ist auch eindrucksvoll eingefangen. Von den schweigsamen Mahlzeiten in schwarzer Kleidung zur heiligen Totenfeier von einst bis zu ausgelassenen Familienfesten, auf denen alkoholisierte dickbäuchige Männer bei Trinkspielen ausfällig werden. Vom plattdeutschen Dialekt, der von einer Generation zur anderen verschwindet, bis zur Küchenschürze, die bleibt.

Eindrücklich ist der Umgang mit der Bauerstochter Erika, die wegen einer schlechten Ernte gegen eine Ladung Getreide getauscht wird. Um die »Frauensache«, sprich die Sterilisation, kümmert sich der Käufer.

Allein: So viel Wahres dran sein mag am beklagenswerten Schicksal vieler Frauen, insbesondere auf dem Land, die dargestellten Verhältnisse sind ein Zerrbild. Systematische Sterilisationen von Mägden gab es nicht. Dass die halbe Landbevölkerung unglücklich gewesen sei, mag man noch behaupten können. Suizidgefährdet war sie sicher nicht. Schon klar, Schilinski verdichtet, verdunkelt, deutet auch Seelenwanderungen an. Ein universeller Makel, der von einer Generation auf die nächste übergeht wie die Erbsünde. Dumpfe Geräusche, die der Zuschauer nicht zuordnen kann, verstärken das Spukhafte, das überall lauert.

Aber muss ein Film, gerade einer, der eine feministische Haltung einnimmt, sämtliche Protagonistinnen als psychisch zerrüttet abbilden? Droht wirklich permanent sexueller Missbrauch? Sind physische Gewalt, finanzielle Abhängigkeit, Ungleichheit im Status, in den beruflichen Möglichkeiten, in der Bildung nicht auch Elemente der Unterdrückung? Warum wird im Film nur diese eine Dimension des Gefälles zwischen den Geschlechtern dargestellt?

Keine Frage, »In die Sonne schauen« ist ein außergewöhnlicher Film, der vieles gemein hat mit Michael Hanekes »Das weiße Band« – in der visuellen Anmutung, in der Stimmung, in der Stoßrichtung. Es ist aber auch ein Film, der seinen Stoff auf irritierende Weise verkürzt, einzelne Elemente hingegen maßlos überstrapaziert.

Wer in die Sonne blickt, stellt sich einer Wahrheit. Eine, die in den Augen brennt, die wehtut. Dieses Drama ist an der Wahrheit nicht interessiert, sondern behauptet eine schaurige Vergangenheit. Das erfüllt dramaturgisch seinen Zweck. Eine politische Botschaft untermauert der Film – hierin anders als »Das weiße Band« – damit aber nicht.

»In die Sonne schauen«, Regie: Mascha Schilinski, Deutschland 2025, 149 Min., Kinostart: heute

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Mehr aus: Feuilleton

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro