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Aus: Ausgabe vom 27.08.2025, Seite 14 / Feuilleton

Rotlicht: Utopie

Von Felix Bartels
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Dalis Pferde bekommen es hin: Sich zu den Sternen strecken und dennoch auf dem Boden bleiben

Wer über das eine nur als das eine denkt, hat es nicht. Zum einen gehört das andere. Das andere, das sich ihm entgegensetzt, und das andere, das das eine auch sein kann. Wirklichkeit enthält Möglichkeiten und provoziert Möglichkeiten. Es muss im Leben mehr als alles geben, sagt der Köter Jennie bei Maurice Sendak.

Womit wir beim hochtrabenden Wort Utopie wären, das irgendwie immer gleich alles meint. Utopie aber ist enthalten in allem, auch in ganz kleinen Dingen. Erfunden hat das Kunstwort Thomas Morus. Die Sache, die er bezeichnete, ist älter, so alt wie die Menschheit. 1516 setzte Morus in »Über den besten Zustand des Staates und über die Insel Utopie« die altgriechischen Worte ou und topos zum »Nichtort« zusammen. Ein Ort, der nicht ist, nicht aber ein Ort, der kein Ort ist. Zweihundert gedachte Taler, sagt Kant, sind keiner weniger als zweihundert vorhandene.

Darum so ziemlich geht es beim Utopiebegriff. Einfach bloß irgendwas wollen macht keine Utopie. Es muss schon transzendent werden. Utopie, um das Ding endlich zu definieren, ist ein positiver Entwurf von Gesellschaft, der nicht nur das Vorhandene, sondern auch die im Vorhandenen enthaltenen Möglichkeiten überschreitet. Sie bezeichnet also eine Sache, die wünschenswert ist, die elementaren Verhältnisse menschlichen Zusammenlebens anrührt und die Möglichkeiten der vorliegenden Gegenwart überschreitet. Nächstes Jahr nach Wacken fahren ist keine Utopie, ein Wacken mit guter Musik vielleicht schon. Utopie fordert nicht einfach bloß, was nicht ist. Sie fordert, was nicht geht. Gegenwärtig nicht oder überhaupt nicht.

Das Nichtsein der Utopie muss also erstens unterschieden werden vom blanken »ist nicht«, das innerhalb bestehender Verhältnisse behoben werden kann, und zweitens muss es in sich differenziert werden in ein »kann gerade nicht sein« (könnte also sein) und ein »kann überhaupt nicht sein«. Letztere Differenz konstituiert, sehr grob gesagt, die zwei Linien in der Geschichte des Begriffs. Denn in der Tat ist man sich uneinig, was das Nichtsein der Utopie nun näher bedeute.

Jeder denkt sich beim Klang eines Wortes irgendwas. Alle reden dann vom selben Klang, während sie womöglich verschiedenes meinen. Löst man sich vom Klang »Utopie« und kommt auf die begriffliche Struktur, könnte eine Kaskade etwas Übersicht über die Landschaft schaffen: Auf der ersten Stufe steht der Traum, der den einfachen Wunsch nach einer bestimmten Weise menschlichen Zusammenlebens repräsentiert. Auf der zweiten steht der Glaube, der den gewünschten Entwurf mit Überzeugung erwartet. Auf der dritten stünde die Utopie, die die Erwartung begründet. Das vorausgesetzt, wäre eine vierte Stufe denkbar, die einen Zustand vorauswirft, der gewollt ist, von dem man aber zugleich eingesteht, dass er nicht oder nicht vollständig erreicht werden kann. Diese vierte Stufe ließe sich als Ideal bezeichnen, das ins Praktische gewendet mehr verkörpert als Wunsch, Begründung und Erwartung, das vielmehr die Funktion eines Motors erhält. In dem Sinn, dass, wer gesellschaftliche Verhältnisse bessern will, über sie hinaus denken muss, ohne sich geistig ganz in diesem Jenseits zu verlieren. Der Mensch hat zwei Beine, warum also soll er nicht auf beiden Seiten des Zauns stehen?

Alle diese vier Stufen können gemeint sein, wenn einer von Utopie spricht. Die vierte Stufe erfordert theoretisch, charakterlich und politisch Reife. Auf ihr findet Utopie als ihrer selbst bewusste, reflektierte Idee statt. Das Individuum befreit sich dazu, sich zu seinem eigenen Wollen zu verhalten. So wichtig war, dem reinen Utopismus ein wissenschaftliches Denken entgegenzusetzen, so drüber hinaus war die Liquidation der Utopie durch die Wissenschaft. Sie kann Utopie nicht als Ziel ersetzen, sie kann sie als Methode überflüssig machen. Die großen Entwürfe der Menschheit erhalten ihren Impuls nicht aus logischen Ableitungen, sondern aus dem Unbehagen am Gegebenen. Erkenntnis kommt beim Wie ins Spiel, beim: Wie setzt man das um?

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