Rhetorik des Bildes
Von Peter Michel
Die Stadt Masaya im Südwesten Nicaraguas und ihr indigener Stadtteil Monimbó standen vor allem im Jahr 1978 im Zentrum des Kampfes der Nationalen Befreiungsfront FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) gegen die Somoza-Diktatur. Pedro Joaquín Chamorro, ein beliebter, mutiger oppositioneller Verleger, war ermordet worden. Die Bevölkerung benannte einen Platz nach ihm, um ihn zu ehren. Ernesto Cardenal, der weltbekannte Befreiungstheologe, schrieb in seinen Erinnerungen: »Alles begann mit einer Messe für Chamorro in Monimbó und der Taufe eines Platzes mit seinem Namen, was sich zu einer Massenkundgebung entwickelte und einen Angriff der Nationalgarde hervorrief, erst mit Tränengas, dann mit Feuerwaffen. Die Bevölkerung baute Barrikaden, um die Zufahrt zum Stadtteil zu blockieren, und bestreute die Straßen mit Glasscherben, damit keine Autos fahren konnten. Überall wurden Feuer angezündet, und die Jungen saßen wie die Affen auf den Bäumen und bewarfen die Soldaten mit Sprengkörpern, wenn sie näher kommen wollten …« Der Aufstand wurde von der Nationalgarde Somozas mit Gewalt niedergeschlagen.
Der Maler Manuel García Moia (1936–2023), der in Monimbó geboren wurde und dort in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, erinnerte auf seine Weise an diese Ereignisse in einem Giebelwandbild, das – weithin sichtbar – neben der Brücke am Bahnhof Berlin-Lichtenberg in den städtischen Raum hineinwirkt. Jeder, der die Brücke überquert, kann es wahrnehmen. Es entstand im Auftrag der DDR-Regierung. Die beiden damals jungen Künstler Trakia Wendisch und Martin Hoffmann halfen ihm dabei, die 255 Quadratmeter große Fläche malerisch zu vollenden. Auf den ersten Blick erscheint das Bild wegen seines naiven Stils wie eine fremdartige Idylle. Man muss schon genauer hinsehen, um etwas von dem blutigen Geschehen zu erkennen, das in den Alltag einbricht.
Wenn man das Bild von oben nach unten »liest«, fällt zuerst die Festung El Coyotepe auf, die sich auf einem kegelförmigen Berg erhebt. Sie wurde während der Somoza-Diktatur als Gefängnis und Folterzentrum für politische Gefangene genutzt. Aus dem Himmel stürzen sich Hubschrauber und Flugzeuge auf die darunterliegende Landschaft. Viele Details sind zu erkennen: fliehende Menschen und Tiere, eine Frau, die vor einem Nationalgardisten kniet, die Arme erhebt und um Gnade fleht. Ein Bauer und eine Frau suchen Schutz unter einem Baum. Mit vorgehaltener Maschinenpistole schauen sich Soldaten nach ihren nächsten Opfern um. Hinter einem Lehmofen, in dem Brot gebacken wird, suchen zwei Bedrohte Schutz. In einer Hütte erhebt eine Frau eine Machete, um Eindringlinge abzuwehren. Eine schreiende Mutter schiebt eine zweirädrige Karre, auf der in einem weißen Tuch eine Leiche liegt; sie zieht ein Kind hinter sich her. Im rechten Bildteil flieht eine Frau mit einem Baby. Hinter ihr liegt ihr ermordeter Mann im Eingang zur Hütte, die Machete noch in der rechten Hand. Je weiter man nach unten kommt, um so deutlicher wird der Widerstand. »Es lebe die FSLN«, »Sandino lebt« und andere Losungen sind an die Hauswände geschrieben. In einem der Häuser berät sich eine Menschengruppe mit Gesten der Entschlossenheit. Ein Kämpfer hat mit einer Handgranate einen Söldner getötet. Hinter ihm legt eine Bäuerin Steine in einen Korb. Neben ihr schleudert ein Mann einen Stein und hält mit der Linken ein Gewehr. Eine Barrikade aus Balken, Autoreifen und Steinen wird gebaut. Maskierte und mit Mundtüchern getarnte Männer bereiten sich auf die Verteidigung vor. Und vor einer Verkaufsbude rauft sich eine Frau die Haare …
Ein Pflanzen- und Blumenstreifen auf schwarzem Grund schließt dieses Bild unten ab. Es erzählt viele Einzelheiten, aber es zählt nicht auf, es ist gestalterisch aus einem Guss. Eine solche Art der Darstellung hat ihre Wurzeln in der naiven Kunst, die auf der Insel Solentiname zu Hause war, durch die Theologie der Befreiung getragen wurde und sich nach dem Sieg der Sandinistischen Revolution über ganz Nicaragua ausbreitete. Der gekreuzigte Christus erschien dort als Guerillero oder Agent der Alphabetisierung; die Heiligen, die den Gekreuzigten anbeteten, waren Bauern in ihrer Arbeitskleidung. Manuel García Moia nahm solche Anregungen auf und setzte sie auf eigene Weise um.
Sein Bild, das am 27. August 1985 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung am Wohnhaus Skandinavische Straße 26 eingeweiht worden war, hielt den Witterungseinflüssen nicht ausreichend stand. Außerdem planten nach der »Wende« neue Hauseigentümer Sanierungen und Modernisierungsarbeiten. Das Bild sollte unter einer Dämmschicht verschwinden. 2004 gründete sich deshalb eine Bürgerinitiative zum Erhalt des Gemäldes. Es entstand als Kopie auf der Dämmwand neu. Viele Sponsoren brachten dafür das nötige Geld auf, so dass es am 30. September 2004 zum zweiten Mal der Öffentlichkeit übergeben werden konnte. Doch 2011 war das Bild wieder in einem so schlechten Zustand, dass es erneut gerettet werden musste. Die Bürgerinitiative ließ in ihren Bemühungen nicht nach und bezog viele aktive Unterstützer ein. Im Sommer 2019 war die Kopie dauerhaft wiederhergestellt und erlebte seine Einweihung zum dritten Mal. Der kleine Platz vor dem Wandgiebel erhielt auf Beschluss des Bezirksamtes Lichtenberg schon 2006 den Namen Monimbóplatz.
Zahlreiche Wandbilder Manuel García Moias, die in anderen europäischen Städten entstanden waren, sind schon verschwunden. Das Lichtenberger Bild aber blieb dank starker Solidarität erhalten. Auch wenn in Nicaragua die Träume vieler Sandinisten nicht aufgegangen sind, erinnert es an eine Zeit blutiger Kämpfe und großer Hoffnungen.
Am 1. September 2025 wird um 15 Uhr im Nachbarschaftshaus im Berliner Ostseeviertel (Ribnitzer Str. 1b) eine Ausstellung mit Werken des im Februar 2023 verstorbenen Manuel García Moia eröffnet
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