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Stress

Von Helmut Höge
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Ständig sagt jemand »Ich bin heute so gestresst« oder »Stress mich nicht«. Auch Nutztiere werden – z. B. auf dem Transport zum Schlachthof – »gestresst«. Das überall benutzte Wort »Stress« ist eine Floskel, die auch in anderen Zusammenhängen kaum etwas aussagt. »Je nach Konzeptualisierung des Begriffs Stress existiert eine Vielzahl von Definitionsversuchen«, heißt es auf Wikipedia. Zudem wird zwischen negativem und positivem Stress unterschieden: dieser spornt an, jener macht krank.

Der Erfinder und lebenslange Erforscher des »Stress«, Hans Selye, der den Begriff aus der Physik ableitete, veröffentlichte 1984 seine Autobiographie mit dem sinnigen Titel »Stress – mein Leben«. Er lehrte als Mediziner in Montreal, gründete dort ein eigenes Forschungsinstitut (mit 2.000 Ratten) und war Präsident des seit 1977 bestehenden International Institute of Stress. Er begann seine Stressforschung damit, dass er Laborratten großer Kälte aussetzte oder mit allen möglichen Giften impfte und sie dann sezierte: »Seltsamerweise bewirkten sie alle die gleichen Veränderungen: Überaktivität der Nebennieren, Lymphgefäßatrophie und Magen-Darm-Geschwüre.«

Selye vermutete, dass die Schädigungen nur »das Syndrom des Krankseins schlechthin« hervorriefen, was er später »biologischen Stress« nannte. Auf einem WHO-Kongress schlug er folgende Definition vor: »Stress ist die unspezifische Reaktion des Körpers auf jede Art von Anforderung« bzw. »Anpassung« (auch an »erfreuliche, neue Umstände«) und sei auch »messbar«, nämlich durch den Nachweis von (vier) »Stresshormonen« im Blut: ACTH, Adrenalin, Corticoide und das Nervenhormon CRF.

Dabei wurde folgendes Schema deutlich: Unter längerem Einfluss der »Wirkstoffe« und »Anforderungen« folgte auf eine »Alarmreaktion« ein »Widerstandsstadium«, dem die Tiere mit einer geringen Erhöhung zweier Stresshormone begegnen konnten. »Schließlich setzte jedoch die ›Erschöpfungsphase‹ ein, und die Tiere erlagen dem Stress.« Selye spricht von »Stresskrankheiten« bzw. »Anpassungskrankheiten« (z. B. Herzleiden oder nervöse Erschöpfung). Die Ärzte behandeln meist das kranke Organ, das »schwächste Glied«, aber nicht die unspezifische Ursache der Erkrankung: den Stress (den Selye eigentlich »strain« hätte nennen wollen, denn er meinte damit nicht den Wirkstoff oder die Anpassung, sondern die Veränderungen, die damit hervorgerufen werden).

Laut seiner Autobiographie wurden ihm ein »Code« und dessen Verbreitung das wichtigste Anliegen bei seiner Stressforschung. Der Code heißt: »altruistischer Egoismus«. Das grundlegende Prinzip dieses Oxymorons lasse sich in zwei Worten zusammenfassen: »Sei notwendig!« Zwar »können wir nicht vermeiden, Egoisten zu sein«, aber »wir müssen Altruisten sein«. Sein »Code« vereint »diese beiden offensichtlich widersprüchlichen Konzepte«.

Den »Selye-Code« fand ich auch im Lebenswerk des israelischen Biologen Amotz Zahavi, der mehr als 50 Jahre lang in der Negev-Wüste arabische Graudrosslinge erforschte. Die Vögel helfen einander. Sie verschenken Nahrung, bieten sich als Wächter an und helfen Pärchen bei der Fütterung ihrer Brut. All das sieht bei diesen sozialen Vögeln nach Altruismus aus. Sie tun dies mit einer »explizit zur Schau gestellten Freiwilligkeit«, schreibt die belgische Philosophin Vinciane Despret in ihrer Aufsatzsammlung »Was würden Tiere sagen, würden wir ihnen die richtigen Fragen stellen?« (2019). Sie begleitete Zahavi eine Zeit lang vor Ort und lernte bei ihm, »das Verhalten dieser derart erstaunlichen Vögel zu beobachten«, die sogar »heftig um das Recht kämpfen«, sich altruistisch zu verhalten.

Zahavi geht davon aus, »eine originelle Antwort auf die Wettbewerbsproblematik in Gruppen, für die Kooperation eine überlebenswichtige Notwendigkeit ist, gefunden zu haben: Sie konkurrieren miteinander um das Recht, zu helfen und zu geben« – und kommen im Erfolgsfall in der Hierarchie der Graudrosslinge weiter. Zahavi spricht laut Despret von einer »Überlegenheit in Wettkampfsituationen«, die sie darin zum Ausdruck bringen, »dass sie ein kostspieliges Verhalten an den Tag legen«. Man kann das einen »al-truistischen Egoismus« nennen, wenn man will, denn »Vögel sind ja auch nur Menschen«, wie eine der Assistentinnen von Konrad Lorenz einst über die von ihr täglich beobachteten Gänse zu Protokoll gab.

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