Recht gegen links
Von Volker Hermsdorf
In Lateinamerika sind Vertreter progressiver Parteien zusehends der Verfolgung durch einen konservativen Justizapparat ausgesetzt, der zugleich Ermittlungen gegen Politiker, Polizei- und Militärangehörige einstellt, denen Korruption, Mord und Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Ein aktuelles Lawfare-Beispiel, das exemplarisch für die derzeitige Entwicklung in der Region ist, liefert das im Dezember 2022 durch einen Putsch an die Macht gelangte Regime in Peru.
Betssy Chávez, die ehemalige Ministerpräsidentin des Landes, protestiert mit einem Hungerstreik gegen »unmenschliche systematische Folter«. Die Politikerin der linken Partei Perú Libre befindet sich seit dem Sturz des gewählten Präsidenten Pedro Castillo in Haft. Die Staatsanwaltschaft wirft ihr – wie auch dem ebenfalls inhaftierten Exstaatschef – »Rebellion« vor und fordert für sie eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren.
Während beide seit Jahren ohne jeden Beweis für das angebliche Vergehen festgehalten werden, unterzeichnete De-facto-Präsidentin Dina Boluarte vor zwei Wochen eine Amnestie für Soldaten, Polizisten und rechte Paramilitärs, deren Beteiligung an Massakern, Verschleppungen und Folter belegt ist. Boluartes Unterschrift könnte laut UN-Experten mehr als 150 Urteile aufheben und über 600 laufende Verfahren beeinflussen. Doch damit nicht genug: Am 19. August ordnete das peruanische Verfassungsgericht die sofortige Einstellung aller Ermittlungen auch gegen Boluarte an. Betroffen sind zahlreiche Untersuchungen – unter anderem wegen des Todes von mindestens 59 Menschen während der Proteste nach ihrer Machtübernahme.
Das Beispiel macht Schule. In Bolivien hat der Oberste Gerichtshof am vergangenen Freitag angeordnet, die Situation von Personen zu »überprüfen«, die sich bereits in Haft befinden und denen eine Beteiligung am Putsch gegen den Expräsidenten Evo Morales und Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Die Anweisung erfolgte nur fünf Tage nach dem Erfolg der Rechten bei den Wahlen am 17. August. Überprüft werden soll auch die Haft von Jeanine Áñez, die sich am 12. November 2019 selbst zur »Interimspräsidentin« ernannt hatte. Ihr werden neben dem Bruch der Verfassung, Verschwörung, Korruption und Bereicherung auch die Verantwortung für außergerichtliche Hinrichtungen durch Angehörige von Streitkräften, Polizei und Paramilitärs vorgeworfen. Laut einer von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte eingesetzten Expertengruppe (GIEI) war das Áñez-Regime verantwortlich für Massaker in den Orten Sacaba (Cochabamba) und Senkata (El Alto), bei denen 38 Menschen getötet und Hunderte schwer verletzt worden waren.
Die jüngsten Fälle in Peru und Bolivien bestätigen, dass Lawfare nicht nur dem Zweck dient, progressive Politiker zu verfolgen, aus dem Amt zu drängen und an der Teilnahme künftiger Wahlen zu hindern. Beispiele für diese Variante sind die Absetzung des linken Präsidenten José Manuel Zelaya auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs und der folgende Staatsstreich 2009 in Honduras sowie 2012 die Absetzung von Fernando Lugo als Präsident von Paraguay. 2016 wurde die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff gestürzt, zwei Jahre später ihr Vorgänger Luiz Inácio Lula da Silva inhaftiert. Beide sollten des Rechts beraubt werden, bei Präsidentschaftswahlen erneut zu kandidieren. Weitere Fälle sind Urteile gegen Expräsident Rafael Correa und dessen Vize Jorge Glas in Ecuador, die juristische Kaltstellung des salvadorianischen Expräsidenten Sánchez Cerén, die Inhaftierung zahlreicher Politiker der früheren linken Regierungspartei FMLN in El Salvador sowie die juristische Verfolgung der ehemaligen argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner.
Darüber hinaus wird die Justiz als Instrument eingesetzt, um Vertreter der herrschenden Oligarchien oder rechter Strukturen vor Verfolgung oder der Verbüßung von Strafen zu bewahren. So etwa im Fall des peruanischen Exdiktators Alberto Fujimori. Der für den Einsatz von Todesschwadronen und Zwangssterilisation zahlloser Frauen Verurteilte wurde auf Anordnung des peruanischen Verfassungsgerichts 2023 freigelassen. Nach seinem Tod ließ Boluarte ihn mit staatlichen Ehren und dreitägiger Staatstrauer beisetzen. »Die Justiz ist nicht blind. Sie sieht scharf auf die eine Seite und übersieht die andere«, schrieb Carl von Ossietzky bereits 1927.
Zu den Hintergründen stellte das Lateinamerikanische Strategiezentrum für Geopolitik (CELAG) fest: »Die Rolle von US-Regierungsstellen und die Interessen des Privatsektors, die sowohl an den Gerichtsverfahren als auch an den Ergebnissen und den darauffolgenden Ereignissen beteiligt sind, ist auffallend und zeigt die Instrumentalisierung des Justiz- und Medienapparats zugunsten ausländischer wirtschaftlicher, politischer und geopolitischer Ziele, die Interessen und Geschäfte mit lokalen privilegierten Minderheiten teilen.«
Aktuell belegt wird diese CELAG-Analyse unter anderem durch die von der US-Regierung gegen Brasilien verhängten Zölle und die Sanktionen gegen den Richter Alexandre de Moraes, mit denen die Einstellung des Strafverfahrens gegen den faschistischen Expräsidenten Jair Bolsonaro erzwungen werden soll. Auch nach dem am 1. August ergangenen Urteil gegen den ehemaligen kolumbianischen Staatschef Álvaro Uribe protestierte Washington. In der vergangenen Woche ordnete das Oberste Gericht in Bogotá seine Freilassung bis zum Berufungstermin an. Sollte bis Mitte Oktober keine Entscheidung in zweiter Instanz fallen, droht das Verfahren zu verjähren. »Die Justiz«, hatte Kurt Tucholsky schon treffend kommentiert, »ist die Hure der Politik.«
Hintergrund: Lawfare
Der aus den Worten »Law« (Gesetz) und »Warfare« (Kriegführung) zusammengesetzte Begriff »Lawfare« ist seit Jahrzehnten gebräuchlich. Allgemein wird darunter der Einsatz juristischer Instrumente zur politischen Verfolgung und Ausschaltung von Gegnern verstanden. Das Rechtssystem wird als strategisches Mittel eingesetzt, um politische Kontrahenten zu delegitimieren, ihre Zeit und finanziellen Mittel zu blockieren und sie in der öffentlichen Wahrnehmung zu diskreditieren. Der Missbrauch des Justizapparats – meist verbunden mit Medienkampagnen – hat in den vergangenen Jahren Führungspersönlichkeiten und linke Gruppen in lateinamerikanischen Ländern aus der Politik verdrängt. Hauptsächliches Ziel war dabei, die neoliberale Ordnung wiederherzustellen.
Doch nicht nur lokale Eliten bedienen sich der Justiz als Instrument zur Rückeroberung und Zementierung ihrer Macht. US-General Charles Dunlap empfahl Lawfare 1999 in seinem Buch »Unrestricted Warfare« (Uneingeschränkte Kriegführung) als Methode der unkonventionellen Kriegführung, bei der das Recht auch als Mittel zur Erreichung militärischer Ziele eingesetzt wird. Er schlug vor, dass die USA darauf zurückgreifen sollten, um Feinde in asymmetrischen Kriegen auszuschalten. Lawfare sollte zudem als Schlüsselinstrument in Maßnahmen zur Gewährleistung der nationalen Sicherheit der USA einbezogen werden, so der heutige Chef des Thinktanks »Center on Law, Ethics and National Security« (LENS).
Aktuelle Beispiele zeigen, dass meist mit konservativen Richtern besetzte Gerichte in vielen Ländern auf seiten der wirtschaftlich Mächtigen stehen und westlichen Narrativen folgen. Sie bestätigen die Analyse von Karl Marx, der vor über 150 Jahren mit der irrigen Vorstellung vom Recht als einem »neutralen Prinzip« aufräumte und die Justiz als »Herrschaftsinstrument im Klassenkampf« beschrieb. Diese Erkenntnis war im vergangenen Jahrhundert weiter verbreitet als heute. »In Erwägung unsrer Schwäche machtet ihr Gesetze, die uns knechten solln«, heißt es in Bertolt Brechts »Lied der Kommunarden«. Und Kurt Tucholsky schrieb in seinem Essay »Die Justiz« 1927: »Der Richter hängt von dem Gesetz ab, das die herrschende Klasse gemacht hat.«
Durch Lawfare erreicht der Klassencharakter der Justiz eine neue Dimension. Vom Instrument zum Machterhalt der Herrschenden in einem Land wurde sie zur Verteidigungswaffe für ein globales Ordnungsmodell, das multinationalen Konzernen und Industriestaaten des globalen Nordens den Zugriff auf die Ressourcen der Länder im Süden sichert. Was in Chile noch mit dem blutigen CIA-Putsch zur Beseitigung von Salvador Allende durchgesetzt wurde, besorgt Lawfare heute weniger spektakulär, aber mit dem gleichen Resultat. (vh)
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