Keiner aus »besseren Kreisen«

Pensionierte Gefängnisdirektoren treten selten als Verfasser von Reflexionsschriften in Erscheinung, und noch seltener als Kritiker des Strafvollzugssystems. Im Westend-Verlag ist nun ein solches Buch erschienen. Verfasst hat es Joachim Walter, der über 35 Jahre im Strafvollzug tätig war, unter anderem als stellvertretender Leiter der Justizvollzugsanstalten Heilbronn, Karlsruhe und Stuttgart-Stammheim sowie Leiter der Anstalten in Pforzheim und Adelsheim – letztere ist eine Jugendstrafanstalt. Walter sagt über sich, ihm sei mit der Zeit klargeworden, »dass der totale Charakter dieser Institution weiter und weiter zurückgebaut werden muss, will man mehr Humanität erreichen«. Er sei »am Ende sogar Abolitionist geworden, also einer, der von der vollständigen Abschaffung des Gefängnisses träumt«.
Das Buch ist eine durchaus interessante Mischung aus persönlichen, bis in die 1970er Jahre zurückreichenden Eindrücken, Anekdoten und Erinnerungen sowie grundsätzlichen Betrachtungen über verschiedene Seiten des Strafvollzuges. Walter ist auch retrospektiv um eine gewisse Distanz bemüht, etwa in der Darstellung seiner Beobachtungen als »Urlaubsvertretung« in Stammheim im Jahr 1976. »Eine an Kälte, Einschüchterung und Abschreckung kaum zu überbietende Architektur«, schreibt er über das Gefängnis und vermerkt, dass dort der Anstaltsleiter und sein Stellvertreter Schusswaffen trugen »und sich darauf auch etwas zugute hielten«.
Menschen hinter Gittern »unterscheiden sich nicht grundsätzlich von anderen Menschen«, hält Walter eingangs als eine Art Fazit seiner beruflichen Tätigkeit fest. Er macht auch unmissverständlich deutlich, dass mit den Gefängnissen überwiegend die Armutsbevölkerung Bekanntschaft macht: In Heilbronn etwa stellte er fest, dass die Insassen »ohne jede Ausnahme aus schwierigen sozialen Verhältnissen, aus armen und zerstörten Familien stammten«. Ihre Richter dagegen stammten durchweg »aus der Mittel- oder Oberschicht«. Verurteilte aus »besseren Kreisen« seien ihm in dem Gefängnis »nie unter die Augen gekommen«. In dem Zusammenhang spricht der ehemalige Gefängnisdirektor sogar von Klassenjustiz. (jW)
Joachim Walter: Die Freiheit nehm’ ich dir. Sinn und Unsinn des Strafvollzugs. Westend, Neu-Isenburg 2025, 240 Seiten, 22 Euro
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