Die gute Sache
Von Peter Schadt
Als Ton Steine Scherben ihre Flucht aus der linken politischen Szene Westberlins angetreten hatten und sich in ihre Landkommune zurückzogen, sang Rio Reiser schon etwas esoterisch angehaucht: »Land in Sicht, singt der Wind in mein Herz / Die lange Reise ist vorbei«. »Kein Land in Sicht« heißt dagegen das Buch des Journalisten und Aktivisten Chris Grodotzki, der darin zehn Jahre zivile Seenotrettung im Mittelmeer resümiert. Das reziproke Scherbenzitat passt auch gut zum umgekehrten Lebenslauf des Autors, der vor mehr als einem Jahrzehnt in Süddeutschland eine Kommune gründete, inzwischen allerdings in Berlin wohnt und politisch aktiv ist.
Während allerdings Reiser in seinem Lied darauf hofft, dass der Regen die Lippen der Durstigen trocknet (»Und die längst verlor’n Geglaubten / Werden von den Toten aufersteh’n«), erzählt das Buch die Geschichte des Vereins Sea Watch und am Rande auch von den anderen zivilen Seenotretterinnen und -rettern, die weniger Vertrauen in die Gerechtigkeit der Geschichte mitbrachten und lieber verhindern wollten und wollen, dass noch mehr Tote überhaupt widerkehren müssen. Dabei wird der Leser auf eine Reise mitgenommen, die eher an das Hörspiel »Teufel hast du Wind« der Scherben erinnert. Wir lernen hier wie dort Piraten kennen: Bei Rio Reiser ist es der Matrose Heinz Seesack, der sich auf die »Oktopus« verirrt, bei Grodotzki Morana Miljanovic, die einen Oktopus tätowiert hat und über die der Autor schreibt, sie sei »die piratigste Person«, die er kenne.
Heinz lernt in dem Stück, das eine klassische moralische Erzählung mit Abenteuermomenten ist, dass die Matrosen sich wohl selbst von ihren Herrschern befreien müssen. Wieder ist die Erzählung im Buch umgekehrt: Die moralische Empörung und verschiedenste politische Urteile über die Festung Europa stehen am Beginn der Geschichte, die uns Grodotzki erzählt. Auch hier kommt das Abenteurertum nicht zu kurz: Die Gattung des »proletarischen Abenteuerromans«, die einst B. Traven begründete, ist auch dem Sachbuch von Grodotzki nicht fremd, wird allerdings immer wieder kritisch gebrochen von Reflexionen des Autors über andere Aktivisten, die er zu Wort kommen lässt.
So erzählt die »piratige« Morana im Gespräch mit dem Autor von dem Plan, dass die größeren Schiffe der Seenotrettung aus logistischen Gründen gar keine Menschen mehr direkt selbst retten sollten, sondern die Überlebenden per »Transshipment« von den kleinen Schiffen dorthin gebracht werden sollten, damit jene »Mini Fleet« direkt wieder losziehen kann. Hier kollidierte allerdings die möglichst effiziente Rettung der Flüchtenden mit dem Selbstbild so manches Aktivisten, wie Miljanovic kritisch berichtet: »Es ist nicht fair gegenüber den Aktivist:innen – wir reden hier über weiße Europäer:innen, die freiwillig Menschen retten, richtig? – die trainiert wurden und hart gearbeitet haben … Es ist nicht fair, dass sie am Ende nicht retten können, weil sie nur Menschen von kleineren Booten transshipped bekommen.«
Grodotzki scheut sich also nicht, die zivile Seenotrettung, mit der er nicht nur ostentativ sympathisiert, sondern selbst aktiv an ihr beteiligt war, auch nach dieser Seite des Abenteurertums kritisch zu beleuchten. Auch darin, dass keine Heldengeschichte erzählt wird, gleicht das lesenswerte Sachbuch also den Geschichten von B. Traven. Das liegt vor allem daran, dass der Autor nicht den Fehler macht, sich durch die Darstellung menschlichen Leides billige Tiefe zu erschleichen.
Vielmehr wird die Geschichte der zivilen Seenotrettung, die durch die persönlichen Kontakte mit zahlreichen Anekdoten angereichert ist, durch verschiedene Seitenaspekte ergänzt, wie einer kurzen Analyse der letzten Jahrzehnte Staatlichkeit in Libyen und deren Ende, um die politischen Grundlagen der Massenmigration im Mittelmeer überhaupt einordnen zu können. Gerade wo die Aktivisten selbst zu Wort kommen, provozieren deren politische Urteile zur Gegenrede –, sofern sie nicht schon selbst gegensätzliche Positionen vertreten. So steht der Gründer von Sea Watch nicht alleine mit seiner Hoffnung, dass die »demokratische Wertegemeinschaft« diese guten Werte doch bitte schön wiederfinden möge – und sieht damit die Europäische Union und ihre Abschottungspolitik im Mittelmeer sehr klassisch als »Schande« für eine doch eigentlich gute Sache. Sally Hayden, eine Journalistin aus Irland, kommt da schon zu einem ganz anderen Urteil: »Oft wird Europa Untätigkeit vorgeworfen, dabei ist es eine ausdauernde und entscheidende Tätigkeit, Menschen von unserem Territorium fernzuhalten.«
Dass und wie die zivile Seenotrettung seit über zehn Jahren Menschen rettet, die von der Europäischen Union zum Tode verurteilt werden, ist detailliert und faktenreich in dem Band aus dem Mandelbaum-Verlag nachzulesen. Auch die Selbstzweifel, inwiefern man ausgerechnet von der Instanz, welche die Toten verursacht, noch als Retter der Werte vorgeführt wird, kommen darin vor. Und wer will, kann dem Band auch entnehmen, dass das Ende des Sterbens nicht noch mehr entschlossene Helfer braucht, die es nicht ertragen, dass das Mittelmeer zur Todeszone unerwünschter Migranten wird. Vielleicht kann man hier noch mal an den Seemann Heinz Seesack erinnern: Der appellierte in dem kleinen Lehrstück nicht an das Gewissen seines Kapitäns, sondern schloss sich mit der Mannschaft zusammen, um das Herrschaftspersonal über Bord gehen zu lassen. Als Pirat, so beschließt er, lebt es sich doch am besten. Statt mit »Kein Land in Sicht« endet das Stück der Scherben nämlich ganz passend mit dem Lied: »Das Schiff sind wir Matrosen«.
Chris Grodotzki: Kein Land in Sicht. Zehn Jahre zivile Seenotrettung im Mittelmeer. Mandelbaum-Verlag. Wien 2025, 296 Seiten, 20 Euro
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