Das große Reinemachen
Von Florian Neuner
Die Wiege der konkreten Poesie stand in der Schweiz. In Bern gründeten Eugen Gomringer, Dieter Roth und Marcel Wyss 1953 die Zeitschrift spirale als »internationale zeitschrift für junge kunst«, im selben Jahr erschien in der spiral press Gomringers Band »konstellationen«. Geboren als Sohn eines Schweizer Geschäftsmanns in Bolivien, war Gomringer, der in Bern Nationalökonomie, Kunst und Literaturgeschichte studierte, in den 40er Jahren mit der in der Schweiz der Nachkriegsjahre einflussreichen konkreten Kunst in Berührung gekommen, mit Künstlern wie Max Bill, Johannes Itten und Richard P. Lohse. Diese unideologische, saubere Kunst mit ihren Quadraten und Kreisen in Grundfarben, »ohne äusserliche anlehnung an naturerscheinungen oder deren transformierung« (Max Bill), war einerseits modernistisch up to date, andererseits mit ihrer inhaltlichen Abstinenz harmlos und kulturpolitisch willkommen. Diesen »konkreten« Ansatz auch auf die Literatur zu übertragen, fanden in den 50er Jahren von Wien bis Rio de Janeiro viele naheliegend.
Während spirale-Mitherausgeber Dieter Roth von den »Sauberkeitsonkels« bald genug hatte und mit »Schmieren und Wüten« auf die hygienische Kunst antwortete, fand Gomringer hier seine Bestimmung und avancierte als Autor, Theoretiker und Herausgeber zum wichtigsten Propagandisten der Bewegung. Texte wie »pingpong« oder der aus dem Wort »schweigen« gebildete Textblock, in dessen Mitte eine Lücke klafft, sind seit Jahrzehnten Lesebuchklassiker. Der junge Eugen Gomringer aber hatte sich nicht weniger vorgenommen als eine völlige Neubestimmung der Literatur. In seinem programmatischen Text »vom vers zur konstellation« schreibt er 1956: »der heutige mensch will rasch verstehen und rasch verstanden werden.« Darauf müsse die Literatur mit »knappheit im positiven sinne« antworten, mit »konzentration und einfachheit« und sich gegen eine »irrationalistische dichtung« wenden, zu der sich ein Großteil der jungen Dichter bekenne: »zweck der neuen dichtung ist, der dichtung wieder eine organische funktion in der gesellschaft zu geben und damit den platz des dichters zu seinem nutzen und zum nutzen der gesellschaft neu zu bestimmen.«
Der Dichter, den Gomringer vor Augen hat, ist eine Art Kommunikationsdesigner. Wesentliche Bezugsgröße ist das isolierte Wort, das in den »konstellationen« zu anderen in Beziehung gesetzt wird: »es ist weder gut noch böse, weder wahr noch falsch. es besteht aus lauten, aus buchstaben, von denen einzelne einen individuellen markanten ausdruck besitzen. es eignet dem wort die schönheit des materials und die abenteuerlichkeit des zeichens.«
Als Resultat dieses »großen reinigungsprozesses« entstehen leicht fassliche, elegante, oft auch etwas aseptisch wirkende Gebilde wie »baum/baum kind//kind/kind hund//hund/hund haus//haus/haus baum//baum kind hund haus«. Im Gegensatz zu anderen der konkreten Bewegung zugerechneten Autoren wie Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl, Gerhard Rühm oder Franz Mon fehlen bei Gomringer der subversive Humor und das quertreiberische Sich-Reiben an der Sprache, die bei ihm auch immer in Takt bleibt, da er die Worte nicht antastet und etwa in Silben und Laute zerlegt. Günter Eichberger berichtet, dass Gunter Falk, ein die konkreten Ansätze subversiv weiterdenkender Autor, Gomringer während eines Vortrags einmal zugerufen haben soll: »Aber Züri brännt, Herr Gomringer!«
Oft ist den Avantgarden ja vorgeworfen worden, ihre Errungenschaften seien allzu schnell von Populärkultur und Werbung aufgesogen worden und hätten dem nichts entgegenzusetzen gehabt. Eugen Gomringer war da konsequenter und hat seine poetische Potenz gleich direkt der Werbewirtschaft zur Verfügung gestellt – als Propagandachef der Schweizer Schmirgel- und Schleifindustrie von 1959 bis 1967 und als Kulturbeauftragter der Rosenthal AG in Selb von 1967 bis 1985. Für die Schweizer Supermarktkette ABM (Au Bon Marché) schrieb er Texte, die auch in seinen Gedichtbänden keine Fremdkörper wären, etwa zur Propagierung der damals neuen Selbstbedienungsmärkte: »Selbst wählen / Sie wählen selbst / wählen Sie selbst / wählen Sie!«
Eugen Gomringer hat bei Reclam wichtige und weit verbreitete Anthologien herausgegeben (»konkrete poesie« 1972 und »visuelle poesie« 1996), an seinem Wohnort im oberfränkischen Wurlitz gründete er 2000 das Institut für Konstruktive Kunst und Konkrete Poesie. In späten Jahren ist Gomringer auch häufig mit seiner Tochter Nora-Eugenie aufgetreten. Die Leiterin des Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg bewegt sich als Autorin allerdings in traditionelleren Bahnen und scheint ihres Vaters Utopie einer »neuen dichtung« nicht zu teilen. 2017 stand ein Gedicht Gomringers aus dem Jahr 1951, das auf einer Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin angebracht worden war, im Mittelpunkt eines absurden Skandals, den der AStA auslöste, der in der Konstellation aus »avenidas« (Straßen), »flores« (Blumen) und »mujeres« (Frauen), der ein »admirador« (Bewunderer) gegenübersteht, Sexismus sehen wollte und damit vor allem Zweifel an seiner Lesekompetenz aufkommen ließ. Am 21. August ist Eugen Gomringer 100jährig in Bamberg gestorben.
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