Makabres Selbstgeschenk
Von Reinhard Lauterbach
Eine Drohne fällt nicht so einfach auf ein Atomkraftwerk. Es muss sie jemand dorthin gesteuert haben. Apologetische Darstellungen deutscher Medien, eine abgeschossene Drohne sei »versehentlich« auf das russische AKW in Kurtschatow bei Kursk gestürzt (so der Spiegel) und habe ein »Nebengebäude beschädigt«, dienen der Verschleierung dessen, was in der Nacht zum Sonntag dort passiert ist: die Überschreitung einer selbstgesetzten Grenze der Kriegführung, die bisher für beide Seiten galt. Atomanlagen waren seit 2022 tabu. Für Kiew sind sie es ab sofort nicht mehr.
Die Eskalation erfolgte pünktlich zum ukrainischen »Unabhängigkeitstag« am Sonntag. Vielleicht gibt es in der ukrainischen Öffentlichkeit Leute, die daraus militärische Zuversicht schöpfen. Dabei spiegelt der AKW-Beschuss eine wachsende Verzweiflung ukrainischer Nationalisten. Sie wollen offenbar noch möglichst viel mitnehmen, bevor es mit ihnen selbst zu Ende geht. Nicht zufällig hat der frühere Stabschef des »Asow«-Korps, Bogdan Krotewitsch, am Sonnabend in einem Interview Alarm geschlagen: Die ukrainischen Brigaden an der Front seien noch zu maximal 30 Prozent bemannt, also nach der offiziellen Heeresdienstvorschrift nicht mehr kampffähig. Zwangsmobilisierte Rekruten könnten das Kriegsglück nicht mehr wenden, so der »Asow«-Mann. Es ist, als hätte Feldmarschall Keitel 1945 Zweifel an der Nützlichkeit des deutschen Volkssturms geäußert.
Man kann nur hoffen, dass Russland auch nach diesem Angriff daran festhält, von sich aus keines der drei noch arbeitenden ukrainischen AKWs anzugreifen. Diese Zurückhaltung war bisher auch durch objektive Faktoren begründet: Die Ukraine liegt westlich von Russland, im Luv der Westwinddrift. Bei einem russischen Angriff würde der radioaktive Niederschlag auch über Russland selbst hinwegziehen. Das lässt hoffen. Aber der Verlauf der russischen Drohnen- und Raketenkampagne gegen das ukrainische Hinterland zeigt, dass man in Moskau offenkundig nicht mehr damit rechnet, dass die Führung in Kiew zu irgend welchen politischen Zugeständnissen bereit ist. Deshalb sollen ihre Rüstungskapazitäten jetzt offenbar systematisch zerschlagen werden, bevor sie Russland gefährlich werden können. Man kann es auch den Versuch nennen, die »Demilitarisierung« der Ukraine praktisch zu erreichen, wenn sie politisch nicht durchsetzbar ist. Dem im Westen gepriesenen »Selbstbehauptungswillen der Ukraine«, dem gerade der Bundespräsident in einer Glückwunscherklärung zum Unabhängigkeitstag Tribut gezollt hat, sollen die Mittel entzogen werden, wenn er schon politisch nicht aus der Welt zu schaffen ist. Dass für Frank-Walter Steinmeier ausgerechnet »das Leiden der ukrainischen Soldaten« der Anstoß ist, »unerschütterlich an der Unterstützung der Ukraine festzuhalten«, ist mehr als makaber. Die Botschaft aus Berlin lautet: Leidet mal schön weiter.
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»Die Ukraine liegt westlich von Russland, im Luv der Westwinddrift. Bei einem russischen Angriff würde der radioaktive Niederschlag auch über Russland selbst hinwegziehen. Das lässt hoffen.« Diese Formulierung finde ich nun wieder makaber. Denn auch bei garantiertem, permanentem Ostwind hätte niemand in Russland, einschließlich der russischen Führung, den Wunsch, dass die Ukraine oder Westeuropa durch radioaktiven Niederschlag verseucht werden. Das gilt nicht nur deshalb, weil Millionen Ukrainer in Russland leben und fast jeder Russe Verwandte in der Ukraine hat, oder weil sehr viele Russen in der EU leben. Es ist ausgeschlossen, dass Russland Atomkraftwerke angreift, aus allgemein menschlichen Gründen, aber auch aus einer Vielzahl praktischer und ökonomischer Gründe.
»Was in der Nacht zum Sonntag dort passiert ist: die Überschreitung einer selbstgesetzten Grenze der Kriegführung, die bisher für beide Seiten galt. Atomanlagen waren seit 2022 tabu. Für Kiew sind sie es ab sofort nicht mehr.« Das größte Atomkraftwerk der Ukraine ist seit langem von Russland (!) besetzt und wird auch seit langem beschossen. Da war nie etwas tabu. Ähnlich wie bei der Sprengung von Nord Stream II ist sich die internationale Atomenergiebehörde allerdings »ratlos«, von wem der Beschuss stammen könnte. Aber der wiederholte Beschuss ist bestätigt und dokumentiert. (…)