Gegründet 1947 Montag, 25. August 2025, Nr. 196
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 25.08.2025, Seite 8 / Ansichten

Makabres Selbstgeschenk

Drohnenattacke auf russisches AKW
Von Reinhard Lauterbach
imago831331340.jpg
Im westukrainischen Lwiw sind am »Tag der Unabhängigkeit« vor allem auch die rot-schwarzen Fahnen der Bandera-Faschisten zu sehen (24.8.2025)

Eine Drohne fällt nicht so einfach auf ein Atomkraftwerk. Es muss sie jemand dorthin gesteuert haben. Apologetische Darstellungen deutscher Medien, eine abgeschossene Drohne sei »versehentlich« auf das russische AKW in Kurtschatow bei Kursk gestürzt (so der Spiegel) und habe ein »Nebengebäude beschädigt«, dienen der Verschleierung dessen, was in der Nacht zum Sonntag dort passiert ist: die Überschreitung einer selbstgesetzten Grenze der Kriegführung, die bisher für beide Seiten galt. Atomanlagen waren seit 2022 tabu. Für Kiew sind sie es ab sofort nicht mehr.

Die Eskalation erfolgte pünktlich zum ukrainischen »Unabhängigkeitstag« am Sonntag. Vielleicht gibt es in der ukrainischen Öffentlichkeit Leute, die daraus militärische Zuversicht schöpfen. Dabei spiegelt der AKW-Beschuss eine wachsende Verzweiflung ukrainischer Nationalisten. Sie wollen offenbar noch möglichst viel mitnehmen, bevor es mit ihnen selbst zu Ende geht. Nicht zufällig hat der frühere Stabschef des »Asow«-Korps, Bogdan Krotewitsch, am Sonnabend in einem Interview Alarm geschlagen: Die ukrainischen Brigaden an der Front seien noch zu maximal 30 Prozent bemannt, also nach der offiziellen Heeresdienstvorschrift nicht mehr kampffähig. Zwangsmobilisierte Rekruten könnten das Kriegsglück nicht mehr wenden, so der »Asow«-Mann. Es ist, als hätte Feldmarschall Keitel 1945 Zweifel an der Nützlichkeit des deutschen Volkssturms geäußert.

Man kann nur hoffen, dass Russland auch nach diesem Angriff daran festhält, von sich aus keines der drei noch arbeitenden ukrainischen AKWs anzugreifen. Diese Zurückhaltung war bisher auch durch objektive Faktoren begründet: Die Ukraine liegt westlich von Russland, im Luv der Westwinddrift. Bei einem russischen Angriff würde der radioaktive Niederschlag auch über Russland selbst hinwegziehen. Das lässt hoffen. Aber der Verlauf der russischen Drohnen- und Raketenkampagne gegen das ukrainische Hinterland zeigt, dass man in Moskau offenkundig nicht mehr damit rechnet, dass die Führung in Kiew zu irgend welchen politischen Zugeständnissen bereit ist. Deshalb sollen ihre Rüstungskapazitäten jetzt offenbar systematisch zerschlagen werden, bevor sie Russland gefährlich werden können. Man kann es auch den Versuch nennen, die »Demilitarisierung« der Ukraine praktisch zu erreichen, wenn sie politisch nicht durchsetzbar ist. Dem im Westen gepriesenen »Selbstbehauptungswillen der Ukraine«, dem gerade der Bundespräsident in einer Glückwunscherklärung zum Unabhängigkeitstag Tribut gezollt hat, sollen die Mittel entzogen werden, wenn er schon politisch nicht aus der Welt zu schaffen ist. Dass für Frank-Walter Steinmeier ausgerechnet »das Leiden der ukrainischen Soldaten« der Anstoß ist, »unerschütterlich an der Unterstützung der Ukraine festzuhalten«, ist mehr als makaber. Die Botschaft aus Berlin lautet: Leidet mal schön weiter.

75 für 75

Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.

 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (25. August 2025 um 09:14 Uhr)
    Krieg ist immer brutal, und in einem Verteidigungskrieg kann man der Ukraine nicht vorschreiben, wie sie sich zu verhalten hat – auch nicht ihre Verbündeten. Gleichzeitig birgt jede Eskalation die Gefahr, dass der Krieg noch grausamer wird und irgendwann völlig außer Kontrolle gerät. Nach russischen Informationen sollen britische und ukrainische Geheimdienste weiterhin Sabotageaktionen unter falscher Flagge gegen US-Militärschiffe in der Ostsee planen, offenbar mit dem Ziel, die USA direkt in den Krieg hineinzuziehen. Der Hintergrund: Ohne einen aktiven Kriegseintritt der USA stünden die Chancen der Ukraine, den Konflikt für sich zu entscheiden, sehr schlecht.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (25. August 2025 um 01:49 Uhr)
    »Dabei spiegelt der AKW-Beschuss eine wachsende Verzweiflung ukrainischer Nationalisten. Sie wollen offenbar noch möglichst viel mitnehmen, bevor es mit ihnen selbst zu Ende geht.« Da fällt einem sofort die Sprengung der Spreetunnel in den letzten Tagen des Zweiten Welkriegs ein. Tausende Zivilisten und Verwundete, die in den nun schlagartig überfluteten U‑Bahnhöfen Schutz gesucht hatten, ertranken. »Wenn wir gehen, dann die anderen auch. Es soll da kein Stein auf dem anderen bleiben.« So zogen die »Asow«-Truppen unter Schüssen auf noch intakte zivile Gebäude und zivile Autos aus Mariupol ab, nach alltbekanntem Muster der Taktik der verbrannten Erde der Wehrmacht. Doch radioaktive Wolken würden dieses Mal auch ihre Anhängerschaft in der Westukraine und ihre Unterstützer in der EU bedrohen, wie sie ja auch die Gasversorgung von EU-Staaten unterbrechen, die ihnen ihrerseits große Mengen an Elektroenergie liefern.
    »Die Ukraine liegt westlich von Russland, im Luv der Westwinddrift. Bei einem russischen Angriff würde der radioaktive Niederschlag auch über Russland selbst hinwegziehen. Das lässt hoffen.« Diese Formulierung finde ich nun wieder makaber. Denn auch bei garantiertem, permanentem Ostwind hätte niemand in Russland, einschließlich der russischen Führung, den Wunsch, dass die Ukraine oder Westeuropa durch radioaktiven Niederschlag verseucht werden. Das gilt nicht nur deshalb, weil Millionen Ukrainer in Russland leben und fast jeder Russe Verwandte in der Ukraine hat, oder weil sehr viele Russen in der EU leben. Es ist ausgeschlossen, dass Russland Atomkraftwerke angreift, aus allgemein menschlichen Gründen, aber auch aus einer Vielzahl praktischer und ökonomischer Gründe.
    »Was in der Nacht zum Sonntag dort passiert ist: die Überschreitung einer selbstgesetzten Grenze der Kriegführung, die bisher für beide Seiten galt. Atomanlagen waren seit 2022 tabu. Für Kiew sind sie es ab sofort nicht mehr.« Das größte Atomkraftwerk der Ukraine ist seit langem von Russland (!) besetzt und wird auch seit langem beschossen. Da war nie etwas tabu. Ähnlich wie bei der Sprengung von Nord Stream II ist sich die internationale Atomenergiebehörde allerdings »ratlos«, von wem der Beschuss stammen könnte. Aber der wiederholte Beschuss ist bestätigt und dokumentiert. (…)
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (24. August 2025 um 20:24 Uhr)
    Folgt man dem »Asow«-Mann, haben 70 Prozent der ukrainischen Soldaten bereits ausgelitten, dann wird Herr Steinmeier das für die restlichen 30 Prozent auch noch schaffen (zusammen mit den Herren Bierdeckel und Pistolero). Lineare Extrapolation: 70 Prozent in 30 Monaten entsprechen 30 Prozent in 12,9 Monaten, die restlichen 30 Prozent werden also gemäß dieser Zahlenmystik im September 2026 ausgelitten haben.

Ähnliche:

  • Große Sorge: Delegation der Internationalen Atomenergiebehörde b...
    10.04.2024

    Drohneneinschlag in AKW

    »Nuklearterror«: Russland beruft Dringlichkeitssitzung der Internationalen Atomenergiebehörde ein
  • Angegriffenes Treibstofflager in Russland: Rauch über der Region...
    07.12.2022

    »UFOs« im Hinterland

    Russland: Treibstofflager in Kursk und Rüstungsbetrieb in Brjansk getroffen. Nationaler Sicherheitsrat einberufen

Mehr aus: Ansichten

                                                                 Aktionsabo: 75 Ausgaben für 75 Euro