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Aus: Ausgabe vom 23.08.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Die unsichtbare Faust

Der letzte Planungschef der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, Generalmajor a. D. Hans-Werner Deim (1934–2015), untersuchte 2001 in jW die US-Militärstrategie. Ein Auszug
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Die USA sind auf dem gesamten Planeten kriegsfähig, auch dank ihrer Luftwaffe: F-15 »Strike Eagle« der U. S. Air Force

Die USA schaffen sich Stützpunkte und Zonen für ihre weltweite Expansion in Form von Niederlassungen amerikanischer Unternehmen in Europa, Kanada, Japan, China, Südkorea oder Australien. Sie unternehmen große Anstrengungen zur Aufrechterhaltung ihrer Informationsüberlegenheit. Das Internet ist eine amerikanische Schöpfung, und das amerikanische globale Satellitensystem ist die Grundlage des weltweiten Telekommunikationssystems. CNN gewöhnt die übrige Welt an Geschmack, Denkart, Gewohnheiten und Kultur der Amerikaner. Außerdem unterhält die US-amerikanische Administration ein breites Netz von Einflusspersonen in Schlüsselländern der Erde. Allein in Russland sind heute mehr als 15.000 US-Amerikaner als Konsultanten, Berater und Experten tätig. Sie arbeiten sicher für Russland, aber gewiss mehr für ihr Land.

In einem Leitartikel der New York Times (28.03.1999) hat Thomas Friedman die neue traditionelle Rolle des militärischen Potentials der USA auf den Punkt gebracht: »Damit der Globalismus funktioniert, darf Amerika sich nicht scheuen, als die allmächtige Supermacht zu handeln, die es ist. (…) Die unsichtbare Hand des Marktes wird nie ohne den F-15-Konstrukteur McDonnell Douglas funktionieren. Und die unsichtbare Faust, die dafür sorgt, dass die Welt für McDonald’s-Niederlassungen und Silicon-Valley-Technologie sicher ist, heißt US-Heer, -Luftwaffe und -Marine.« (…)

Im Kalten Krieg bereiteten die USA ihre Streitkräfte darauf vor, sich an der Spitze von Koalitionsgruppierungen gegenüber einem nahezu gleichstarken Gegner in globalen, regionalen und subregionalen Kriegen sowohl unter den Bedingungen des Einsatzes der Kernwaffen als auch herkömmlicher Waffen und konventioneller Präzisionswaffen durchsetzen zu können. Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde ein neues Kriegsbild entworfen und erprobt. Der prinzipiell unter den Schwächeren gewählte Gegner soll im Ergebnis von Informationskriegshandlungen im hohen Sinn der Verteidigung seiner Heimat und Werte erschüttert werden. Wenn es erforderlich wird, soll er durch konzentrierte militärische Gewalt bei minimalen eigenen Verlusten endgültig in die Knie gezwungen werden. Die militärischen Schläge sollen auf lebenswichtige zivile und stabilitätsfördernde militärische Objekte geführt werden, ohne mit dem Gegner in unmittelbaren Kontakt zu treten.

Diese letzte Kriegsphase soll kurz, abschließend und erfolgsorientiert sein. Ausmaß und Charakter der Handlungen erreichen keine strategische Dimension. Der Raum der Kriegshandlungen wird auf geringere Teile eines Kriegsschauplatzes im Verständnis der Zeit des Kalten Krieges begrenzt. Der bewaffnete Kampf beschränkt sich auf Schläge mit konventionellen Vernichtungsmitteln gegen Erdziele aus den Sphären Luft und Kosmos und nicht selten von See her. Dem Opfer des Überfalls werden so Verfahren und Formen des Waffenganges aufgezwungen, in denen der Aggressor eindeutig im Vorteil ist. (…)

Die USA wollen durch eigene Unangreifbarkeit, die schlagfähig bleiben soll, wieder gegenüber einer Reihe von großen Mächten, besonders Russland und China, strategisch überlegen werden. Ende der 1950er Jahre hatten die in Dienst gestellten schweren sowjetischen Interkontinentalraketen die USA ihrer durch die geographische Lage gesicherten praktischen Unverwundbarkeit beraubt. Jede der Seiten wurde nun schutzlos der Rationalität der anderen beim Umgang mit Kernwaffen ausgesetzt. Verträge zur Begrenzung der strategischen Waffen (SALT) setzten auch den USA ein kontrollierbares Limit ihrer Rüstungen. 1972 wurden sie mit dem ABM-Vertrag verbunden. Jede der Supermächte durfte nur ein System der Raketenabwehr besitzen. Beide behielten die Zweitschlagsfähigkeit. Die Verwundbarkeit jeder Supermacht wurde entscheidender Stabilitätsfaktor. Auf Dauer haben es die USA nicht verwunden, stark zu sein, sich dem anderen aber nicht aufzwingen zu können. 1983 setzten sie auf SDI. Laser- und Strahlenwaffen sollten im Weltraum stationiert werden und angreifende Kernwaffen abfangen können. Es wurde keine adäquate technische Lösung gefunden.

Heute ertragen es US-Amerikaner nicht, den Umgang mit ihrem konventionellen und ihrem nuklearen strategischen Potential von Verträgen abhängig machen zu müssen, die mit der untergegangenen UdSSR abgeschlossen worden sind. Erneut geht es den USA um die Entwicklung ihrer Verteidigungsfähigkeiten gegen strategische Angriffswaffen. Und erneut sind überzeugende technische Lösungen nicht in Sicht. Mit dem angestrebten Potential, in dessen Besitz sie erst nach zeit- und mittelaufwendigen Forschungen und Entwicklungen kommen können, werden real nur die Bedingungen für die Entwertung der vorhandenen strategischen Waffen Russlands und Chinas geschaffen sein, nicht aber gegen vermeintliche Raketen von »Schurkenstaaten«.

Hans-Werner Deim: An jedem Punkt der ­Erde. Die Militärstrategie der USA (Teil 1). In: jW vom 27. September 2001 (­aktualisierte Fassung eines Artikels, der zuerst in den Marxistischen Blättern 5/2001 erschien)

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  • Leserbrief von Doris Prato (25. August 2025 um 12:24 Uhr)
    Bereits im September 1991 trafen sich auf einem »Fürstenfeldbrucker Symposium« führende Vertreter der Industrie- und Bankenwelt mit hochrangigen Generälen der Bundeswehr mit Exverteidigungsminister Ruppert Scholz an der Spitze, um das neue deutsche Expansionsprogramm zu beraten. Es verkündete die Rückkehr zu weltweiter Aggressionspolitik als Wiederherstellung der »Normalität« Deutschlands, umschrieb die Teilnahme am Kampf um den Weltherrschaftsanspruch als »Partner in Leadership« mit den USA. Unmissverständlich war von Militäreinsätzen der Bundeswehr out of Area die Rede, von ihrer Umstrukturierung zur Herstellung der Einsatzfähigkeit entlang einer 4.000 Kilometer langen EU-Außengrenze, der Bildung eigener Eingreifkräfte, die das »Selbstbestimmungsrecht« von Minderheiten und »unterdrückten« Völkern durchsetzen, sich der Gefährdung von Rohstoffzufuhr, der Begegnung von Immigrationswellen und diversen ähnlichen Problemen zuwenden sollten. Dazu wurde ein neues Geschichtsbild gefordert, das mit Auschwitz und Holocaust Schluss machen und stattdessen »Nation und Vaterland« zum Inhalt haben sollte. In diesen Debatten wie verabschiedeten Denkschriften und ähnlichen Deklarationen wurde übrigens Klartext gesprochen, war von keinem Kampf gegen den Terrorismus die Rede. Dieser Vorwand wurde erst später mit dem 11. September 2001 geschaffen. Es ging in Fürstenfeldbruck nicht nur um die Revidierung der Nachkriegsordnung, sondern weiter zurückreichend auch um die des Ersten Weltkrieges. Davon zeugte die Haltung zur Konzeption der Zerschlagung Jugoslawiens. Ruppert Scholz erinnerte daran, dass »der Jugoslawienkonflikt unbestreitbar fundamentale gesamtdeutsche Bedeutung« habe, da mit ihm »die wichtigsten Folgen des Zweiten Weltkrieges überwunden und bewältigt« werden. »Aber in anderen Bereichen«, so Ruppert weiter, »sind wir heute damit befasst, noch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu bewältigen.« Diese wurden darin gesehen, dass der jugoslawische Staat nach dem Ersten Weltkrieg eine Barriere gegen den »Deutschen Drang nach Osten« sein sollte, welche es nach Rupperts Worten zu beseitigen galt, und dass deshalb »Kroatien und Slowenien völkerrechtlich unmittelbar anerkannt werden« müssten. Die so bezweckte Internationalisierung des Konflikts ermögliche, so der deutsche Exverteidigungsminister, international in Jugoslawien zu intervenieren, wozu die BRD dann mit der einseitigen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens, gefolgt von Österreich und dem Vatikan, den Weg frei machte. Ins Werk setzte das der damalige bundesdeutsche Außenminister der Liberalen, Dietrich Genscher.

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