Auf Kosten der Zukunft
Von Volker Hermsdorf
Wenn das größte und bevölkerungsreichste Land Südamerikas jedes Jahr am 7. September seinen Nationalfeiertag mit Paraden, Militärflugzeugen und patriotischen Reden begeht, erinnert es an den Moment von 1822, als Kaiser Peter I. von Brasilien (Dom Pedro I) am Ufer des Flusses Ipiranga die Unabhängigkeit Brasiliens ausrief. Sein Schwur »Indepêndencia ou morte!« (Unabhängigkeit oder Tod!) ging später als »Ruf vom Ipiranga« (Grito do Ipiranga) in die Geschichte ein. Doch wer nur diesen Tag als entscheidenden Akt der Befreiung von Portugals Kolonialherrschaft feiert, übersieht einen wesentlichen Teil der Wahrheit. Denn die wirkliche Anerkennung der Unabhängigkeit erfolgte erst knapp drei Jahre später, am 29. August 1825, mit Unterzeichnung des Vertrags von Rio de Janeiro. Dieses Abkommen zwischen Portugal und dem neuen Kaiserreich Brasilien machte die Loslösung von der Kolonialmacht erst völkerrechtlich bindend. Linke Kritiker wenden jedoch ein, dass der Vertrag von Rio zwar ein entscheidender, aber unvollendeter Schritt zur Unabhängigkeit war, da die portugiesische Herrschaft lediglich durch eine brasilianische Oligarchie ersetzt wurde. Das Abkommen habe keine echte Emanzipation der brasilianischen Bevölkerung eingeleitet, sondern in erster Linie die Interessen der Großgrundbesitzer und der Handelsbourgeoisie gesichert.
Kampf zweier Eliten
Brasiliens Weg in die Unabhängigkeit war eng mit politischen Umbrüchen in Europa verknüpft. Als Napoleons Truppen 1807 Portugal besetzten, floh die gesamte königliche Familie über den Atlantik – ein bis dahin einzigartiger Vorgang in der Kolonialgeschichte. Rio de Janeiro wurde zur Hauptstadt des portugiesischen Weltreichs und die Kolonie zum Zentrum der Monarchie. Häfen öffneten sich für den internationalen Handel, Institutionen wie die Bank von Brasilien entstanden, und die einstige Randprovinz wurde zum politischen Mittelpunkt. Als der portugiesische König Johann VI. (João VI.) 1821 nach Lissabon zurückkehrte, ließ er seinen Sohn Pedro als Regenten zurück.
Die Versuche der Cortes, des portugiesischen Parlaments, Brasilien wieder in den Status einer Kolonie zurückzuversetzen, stießen auf vehementen Widerstand der neuen, mittlerweile selbstbewussten Eliten – der mächtigen Kaffeebarone und Sklavenhalter. Getrieben von ihrer ökonomischen Macht erklärte Pedro am 7. September 1822: »Freunde, die portugiesischen Cortes wollten uns versklaven. Ab heute sind unsere Bande beendet. Brasilianer, lasst unsere Parole von diesem Tag an ›Unabhängigkeit oder Tod‹ sein!« Am 12. Oktober 1822 wurde mit seiner Ausrufung zum Herrscher das brasilianische Kaiserreich begründet, wodurch die Unabhängigkeit ihre institutionelle Form erhielt.
Der lachende Dritte
Portugal akzeptierte die einseitige Erklärung zunächst nicht. In mehreren Regionen kam es zu Kämpfen mit Unabhängigkeitsbefürwortern. Der folgende Krieg war jedoch weniger ein nationaler Befreiungskampf als vielmehr Ausdruck eines Konflikts zwischen einer alten und einer neuen Elite. Während Portugal militärisch zu schwach war, sein verlorenes Territorium zurückzuerobern, war die neue brasilianische Führung auf internationale Anerkennung aus. Großbritannien wurde zu einem entscheidenden Akteur. Die britische Krone hatte vitales wirtschaftliches Interesse an einem unabhängigen Brasilien als stabilem Handelspartner für ihre Industriegüter und als Lieferant von Rohstoffen. Londons Außenminister George Canning drängte Portugal daher zur Anerkennung. Nach militärischen Erfolgen der kaiserlichen Truppen und langen Verhandlungen unter britischer Vermittlung wurde der Konflikt im August 1825 schließlich beigelegt.
Der Vertrag von Rio de Janeiro gilt als ein geschickter diplomatischer Kompromiss, war aber auch ein Deal auf Kosten der Zukunft. Portugal erkannte Brasilien als unabhängiges Kaiserreich unter Peter I. offiziell an. Im Gegenzug sicherte Brasilien Portugal Handelsvorteile und – viel bedeutender – die Übernahme der portugiesischen Staatsschulden gegenüber Großbritannien. Die vereinbarte Entschädigungszahlung von zwei Millionen Pfund Sterling stammte jedoch nicht aus eigenen Mitteln, sondern aus einem Kredit britischer Banken – womit die wirtschaftliche Abhängigkeit von London begann. Brasilien erlangte seine Souveränität, indem es sich buchstäblich von den alten Kolonialherren freikaufte und sich dabei gleichzeitig einem neuen imperialen Gläubiger auslieferte. Großbritannien sicherte sich als Vermittler politische und wirtschaftliche Vorteile. Schon bestehende Handelsprivilegien wurden gefestigt, britische Waren überschwemmten den brasilianischen Markt.
Für die brasilianische Oligarchie war der Preis akzeptabel: Kaffeeplantagenbesitzer, Zuckerbarone und die städtische Bourgeoisie erhielten Rechtssicherheit und internationale Anerkennung. Für die Mehrheit des Volkes änderte sich hingegen wenig. Die Sklaverei, das wichtigste Fundament des agroexportorientierten Wirtschaftsmodells, wurde nicht angetastet und bestand weitere 63 Jahre fort. Die breite Masse der Sklaven, Landlosen, Arbeiter und armen Stadtbewohner hatte von der »Unabhängigkeit« nichts. Die Macht hatte lediglich den Besitzer gewechselt. Die Monarchie blieb erhalten, gestützt auf eine Allianz von Großgrundbesitzern, Militär und Bürokratie.
»Revolution von oben«
Während die offizielle Geschichtsschreibung den 7. September oft als heldenhafte »Geburtsstunde der Nation« verklärt und den Vertrag von Rio als deren formale Bestätigung betrachtet, stellen kritische Wissenschaftler diesen Mythos in Frage. Aus antiimperialistischer Sicht markiert der Vertrag nicht den Höhepunkt, sondern die Begrenztheit der brasilianischen Unabhängigkeit. Der 1990 verstorbene Kommunist Caio Prado Júnior, einer der bedeutendsten marxistischen Historiker des Landes, beschrieb die Ereignisse von 1822 und 1825 als eine »Revolution von oben«. Der Prozess sei von den Eliten gesteuert worden, die lediglich ihre Position gegenüber Portugal absicherten, ohne die sozialen Grundlagen zu verändern. Das Ziel des Vertrags von 1825 war nicht, eine neue, gerechtere Gesellschaft zu schaffen, sondern die wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen der herrschenden Klasse gegen den Rückfall in den portugiesischen Kolonialstatus abzusichern.
Prado betrachtete Großbritannien nicht als neutralen Vermittler, sondern als nutznießende Kraft. Dass die Sklaverei bestehen blieb, war für ihn der schlagende Beweis, dass keine soziale Revolution stattgefunden hatte. Auch der Historiker Nelson Werneck Sodré (1911–1999) charakterisierte das Rio-Abkommen als »bourgeoisen Kompromiss«. Der Vertrag sei ein Pakt zwischen der portugiesischen Krone und der brasilianischen Agrarbourgeoisie gewesen, dessen Ziel nicht die Befreiung des Volkes, sondern die Verhinderung radikaler Umwälzungen gewesen sei. Der brasilianische Befreiungstheologe Frei Betto äußerte sich später ähnlich. Er verweist in mehreren Schriften darauf, dass Brasilien »im Konflikt mit sich selbst« sei – weil koloniale Strukturen bis heute fortwirken.
Die Kommunistische Partei Brasiliens (PCB) fasste diese Kritiken in ihren Programmen der 1950er und 60er Jahre politisch zusammen und sprach von einer »unvollendeten Unabhängigkeit«. Im 1950 veröffentlichten »Manifesto de Agosto« und dem »Programa da Revolução Brasileira« aus dem Jahr 1962 erklärte die Partei, dass die wahre, antiimperialistische, antifeudale und antioligarchische Revolution noch ausstehe, um die Aufgaben nachzuholen, die 1825 unerfüllt geblieben seien: Landreform, Abschaffung des Großgrundbesitzes und politische Mitbestimmung. Tatsächlich beendete der Vertrag von Rio zwar einen Krieg und garantierte die Unabhängigkeit Brasiliens, zementierte zugleich aber auch das Fundament für die tiefen sozialen Ungleichheiten, die das Land bis heute prägen. Wie ein Treppenwitz der Geschichte wirkt es, dass der heutige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva – 200 Jahre nach dem Vertrag von Rio de Janeiro – die Souveränität seines Landes wieder gegen Angriffe und Begehrlichkeiten einer imperialen Macht, diesmal aus dem Norden, verteidigen muss.
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