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Aus: Ausgabe vom 23.08.2025, Seite 12 / Thema
Philosophie

Hass auf die Masse

Zwischen zivilisationsmüder Kriegsbegeisterung und aufklärerischer Ideologiekritik. Vor 125 Jahren starb Friedrich Nietzsche (Teil 1 von 2)
Von Ingar Solty
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Hier noch nicht in geistiger Umnachtung: Aufnahme von Friedrich Nietzsche, um 1869

In der Regel können sich Sozialisten auf sozialistische Intellektuelle, Liberale auf liberale und Konservative sowie Faschisten auf rechte einigen. Am ehesten ist es der Konservatismus (und der Faschismus als seine Radikalisierung), der, weil theoriearm und buchstäblich reaktionär im Sinne einer Abwehrreaktion gegen den zunächst liberal-radikaldemokratischen, später sozialistischen Egalitarismus, sich bei den Theorien der Gegner bedienen muss. Die Reaktion liest Marx für die »Revolution von rechts« (Hans Freyer), Gramsci für die »Kulturrevolution von rechts« (Alain de Benoist) und noch mal »Marx von rechts«, um den »woken Linksliberalismus« zu beseitigen (Benedikt Kaiser).

Die sozialistische Bewegung hatte es lange nicht nötig, sich Versatzstücke feindlicher, bürgerlicher Theorien einzuverleiben. Die bürgerliche Wissenschaft reagierte auf ihren Marxismus, versuchte, ihn zu widerlegen, nicht umgekehrt. Sicher, es gab immer Sozialistinnen und Sozialisten, die unter rechten Intellektuellen studierten und Teile ihrer Liberalismuskritik übernahmen. Der junge Walter Benjamin wandte sich begeistert an Carl Schmitt, mit Franz Neumann und Otto Kirchheimer entstand eine ganze, der Arbeiterbewegung verbundene Schule des Linksschmittianismus, und schon Herbert Marcuse entwickelte seine kritische Theorie der Gesellschaft und Philosophie der Befreiung auch aus dem Material von Nietzsche und Heidegger – bis zu dem Punkt, dass Theodor W. Adorno gegen ihn ätzte, Marcuse sei doch bloß ein »durch sein Judentum verhinderter Faschist«.

Erst nach 1945, als im Westen unter dem Eindruck des langsamen Niedergangs der alten Arbeiterbewegung die Neue Linke entstand, änderte sich die Situation. Die postmoderne Linke begann nun, systematisch konservative, präfaschistische und faschistische Autoren sich anzuverwandeln. Bei Michel Foucault vollzog sich die Abwendung vom Kommunismus Anfang der 1950er Jahre zeitgleich zu seiner Hinwendung zu Nietzsche. Judith Butler bezog auch über Foucault ihre starken Nietzsche/Heidegger-Bezüge. Die französische Postmoderne ist ohne diese beiden Denker überhaupt nicht zu denken.

Mit dem Neoliberalismus und der im Westen Ende der 1970er Jahre wieder einmal erklärten »Krise des Marxismus« kam es zu einem qualitativen Sprung: Die postmoderne Linke löste im akademischen Betrieb den Marxismus weitgehend ab. Die theoriearme Rechte las den Feind, um stärker zu werden, aber wurde auch die theoriereiche Linke durch ihre Feindlektüre stärker? Das ist die entscheidende Frage. Sie ist anhand Nietzsches Werk zu diskutieren.

Aufgabe der Marxisten

Unmittelbar nach 1945 war das Urteil zunächst klar: Nietzsches Denken hatte den Weg in den Faschismus geebnet. In Georg Lukács’ Darstellung vom »Weg Deutschlands zu Hitler auf dem Gebiete der Philosophie« nimmt Nietzsche einen zentralen Platz ein. Das hat mit Lukács’ zentraler These zu tun, die da lautet: Die wachsenden Schwierigkeiten des Bürgertums, die Klassengesellschaft gegenüber der aufsteigenden Arbeiterbewegung zu rechtfertigen, habe bei seinen Intellektuellen zu einer Fortschrittsfeindlichkeit im Gewand des Irrationalismus geführt, und Nietzsche, der »entschiedene Irrationalist«, war ihr Hauptpfeiler.

Unbestritten ist Nietzsches Relevanz auf dem Weg ins Jahrhundert der Katastrophen. 1914 zogen unzählige Kinder aus bürgerlichem Hause, von seiner Philosophie ganz besoffen, begeistert in den Ersten Weltkrieg und wurden, wo nicht kriegsversehrt und antikriegsbekehrt, oft zu Akteuren der Konterrevolution nach 1918/1919. Schwer zu leugnen scheint auch der nietzscheanische Geist, der durch SS und die »Lebensborn«-Bewegung wehte. Nietzsches und Hitlers kultische Begeisterung für Richard Wagner und das begeisterte Wirken der Wagner-Erben im »Nationalsozialismus« sind keinesfalls zufällig. »Auch Hitler selbst wird man bei Nietzsche wiederfinden«, urteilte Emmanuel Levinas, selbst wenn Mussolini den deutschen Philosophen noch intensiver las als der »Führer«.

Trotz alledem gibt es eine linke Nietzsche-Rezeption. Angesichts dessen bestehe die Aufgabe, so formulierte es 1988 Lars Lambrecht auf dem Symposium »Wie muss ein marxistisches Nietzschebild heute aussehen?«, darin, »die unleugbare Anziehungskraft für linke Intellektuelle, statt sie zu denunzieren, wirklich (zu) erklären«. Dies ist ein Versuch, genau das zu tun.

Der Marxist Bertolt Brecht gab auf die Frage »Wer wird die Welt ändern?« die Antwort: »Die, denen sie nicht gefällt.« Fest steht: Nietzsche gefiel die Welt nicht, wie sie ist. Auch wollte er sie ändern. Er war unbestritten ein Rebell, revoltierte gegen Autoritäten. Aber die entscheidenden Fragen sind: Was gefiel ihm nicht? In welche Richtung wollte er ändern? Mit wem und welchen Mitteln?

Nietzsches lebenslange Revolte richtete sich vor allem gegen die herrschende Moral, ja das Moralische an sich und damit gegen das Christentum. Er postulierte: »Gott ist tot.« Zugleich war er doch bloß Verkünder und Multiplikator einer längst durch Feuerbach und Schopenhauer, dem »unbeugsamen Atheisten«, der die »Ungöttlichkeit des Daseins« konstatiert hatte, etablierten Wahrheit.

Ein seltsames Kind

Nietzsche begann als Altphilologe. Sein Zugang zur Welt waren die Antike, die Musik und Poesie. Schon mit neun Jahren schrieb er Gedichte. Seine Briefe und Werke sind gespickt mit den Markern der humanistischen Gymnasialausbildung auf dem Eliteinternat Schulpforta in Naumburg, wo, so sein Biograph Curt Paul Janz, »Offiziere für die geistige Führung des Volkes ausgebildet werden« sollten.

Der sensible Friedrich, geboren am 15. Oktober 1844 als Sohn des Landpfarrers im Dorf Rücken bei Lützen, war schon als Kind ein Außenseiter und hatte Anpassungsschwierigkeiten. In seiner Autobiographie schrieb er später: »Schon damals fing mein Charakter an sich zu zeigen. Ich hatte in meinem jungen Leben schon sehr viel Trauer und Betrübnis gesehn« – der Vater starb im Juli 1849, die Familie musste das Elternhaus räumen – »und war deshalb nicht ganz so lustig und wild wie Kinder zu sein pflegen. Meine Mitschüler waren gewohnt, mich wegen dieses Ernstes zu necken. Aber dieses geschah nicht allein in der Bürgerschule, nein, auch später im Institut und sogar im Gymnasio. Von Kindheit an suchte ich die Einsamkeit.«

Die Umwelt erschien ihm als feindlich. Aber Nietzsche war auch feindlich gegenüber seiner Umwelt. Beide Seiten bedingen einander. Es sei, sangen einst Tocotronic, leicht zu sagen, »alles, was ich will, ist, nichts mit euch zu tun haben«, wenn man sowieso nicht dazugehört. Das traf auf Nietzsche zu. Er erhob sich geistig über die ihn mobbenden Mitschüler. Er nährte »die Illusion, sich auf polnischen Adel zurückführen zu können«, dabei waren »in Wirklichkeit (…) seine Vorfahren im 17. Jahrhundert Häusler, ein Fleischhauer aus der Oberlausitz, später tauchen ein Notar und ein sächsischer Steuerbeamter auf«. Diese Linien laufen dann »in protestantischer ›Pfarrhaustradition‹ zusammen«. Nietzsche aber übernahm vom erzmonarchistischen Vater, der ihm die Vornamen preußischer Könige gab (Friedrich Wilhelm), »eine Vorliebe für gewählte Kleidung und höfische Manieren«.

Der Stil verfestigte sich in seiner Studienzeit: Ihm missbehage, schrieb der 20jährige Bonner Philologiestudent, die »Geselligkeit auf den Kneipenabenden« so sehr, dass er »einzelne Individuen ihres Biermaterialismus wegen kaum ausstehen« könne. Nietzsche blieb Einzelgänger, mit wenigen Freunden als »eine Notwendigkeit«, den übrigen als »Zukost« und dem Rest der Welt »als nichts«. Nietzsche wäre nicht der erste und letzte, der im Gefühl geistiger Überlegenheit sein Seelenheil sucht, getrieben von Narzissmus, der aus einem Minderwertigkeitsgefühl entspringt. Seine ständigen Krankheiten könnten psychosomatischen Ursprungs sein.

Der frühe Tod des »gemütskranken« Vaters war Folge einer »Gehirnerweichung«. Nietzsche aber redete der Umwelt ein, er sei aus Gram über die 1848er-Revolution gestorben. Die Geisteskrankheit des Vaters hing wie ein Schatten über ihm, weil das kränkelnde Kind schon früh zu deren »Ende sich verdammt fühlt«. Später, in »Ecce Homo«, als er längst auf dem Weg in seinen eigenen, psychotischen Größenwahnsinn ist, wird er schreiben, der Tod des Vaters sei der Grund, warum er selbst »so weise«, »so klug« sei, und »warum ich so gute Bücher« schreibe. »Ecce Homo« ist das krasseste Dokument von Nietzsches Ich-Herrlichkeit, bevor er 1889 in seine bis zu seinem Tod am 25. August 1900 währende geistige Umnachtung fällt.

Sprache des Gefühls

Nietzsches Zugang zur Welt war auch die Musik. Er musizierte selbst, komponierte und schwärmte in Zeiten vor dem Tonfilm für das Gesamtkunstwerk Oper – Schumann, Händel, Haydn, ab August 1868 dann Wagner. Er sah seine »Aufgabe« darin, »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens«.

Die »objektive Vollkommenheit eines Musikwerkes« diente dem Sexualität und Alkoholischem eher entsagenden Nietzsche zum Rausch, spirituellen Erlebnis und als Fluchtpunkt. Die Musik, schreibt er, sei durch »ihre uralte Verbindung mit der Poesie« »so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, (…) unmittelbare Sprache des Gefühls«. Sie ist durch sinnliches Erleben kathartischer Weg zum authentischen Leben, führt zu »seltsam getrösteter Stimmung, (…) neuen Gefühl der Sicherheit, als ob wir nun aus den größten Gefahren, Ausschreitungen und Ekstasen den Weg zurück ins Begrenzte und Heimische gefunden hätten: dorthin, wo man überlegen-gütig und jedenfalls vornehmer als vordem verkehren kann.«

Kunst ist indes nicht gleich Kunst. Ihre »Aufgabe« sei »Stumpfsinn oder Rausch! Einschläfern oder betäuben!«. Wagner war der »Lichtbringer« der echten, rauschhaften Kunst, der den zentralen Platz in Nietzsches Geniekult füllte. Er schwärmte: Der »Betrachtende, vor dessen Blick eine solche Natur, wie die Wagners steht«, müsse »unwillkürlich (...) auf seine Kleinheit und Gebrechlichkeit zurückgeworfen werden« und werde »sich fragen: was soll sie dir? Wozu bist denn du eigentlich da?«.

In Bonn wurde Nietzsche sofort Mitglied der Burschenschaft Franconia. Zunächst war er begeistert: »Wer als Studierender eine Zeit und sein Volk kennenlernen« wolle, müsse »Farbenstudent werden«. Nach Spannungen mit den Kommilitonen trübte sich das Bild. Er störte sich an Zwangsgeselligkeit, geringer »politischer Urteilskraft«, »Auftreten nach außen«, das ihm als »plebejisch und abstoßend« erschien. Er machte sich unbeliebt, weil er mit »meinen mißgünstigen Urteilen nicht zu sehr zurückhaltend« war. Er wunderte sich, dass er von seinem Freund Hermann Mushacke gemocht wurde, trotz »meiner vielfachen Zerrissenheit«, fragte sich, »in Momenten, wo der Geist alles negiert«, ob dieser ihn »nur zu wenig kennt«. Es war eine Form von narzisstisch eingegangener Freundschaft: »Er liebt«, schreibt Janz, »also sich selbst in dem Freunde und die Bestätigung seiner selbst. Das Andere« ergreife »ihn nicht«.

Von Mutter, Schwester und anderen Frauen ließ er sich umsorgen. In Bonn wohnte er bei einer »stets so lieben Geberin« »ganz allerliebst, esse recht gut, werde reinlich und pünktlich bedient«. Der Übermensch war recht »lebensuntüchtig«; noch als 23jähriger wollte er eine Kiste Weintrauben per Post aufgeben, was ihm »die unselige Post« quittierte mit: Sie könne das Paket »nicht annehmen (…), weil die Weintrauben nur als Most ankommen würden«.

Nietzsche war, wie Ernst Jünger, Adolf Hitler und Carl Schmitt, zunächst Romantiker. Er war auf der Suche nach sich selbst, hielt es für »den größten Gewinn« seines ersten Studienjahres, »dass ich für das Verständnis meines Selbst viel gelernt habe«. Er suchte nach der individuellen Freiheit, dem richtigen Leben jenseits der Konventionen. Nietzsche wollte fühlen und reagierte allergisch auf »die Gewöhnung«, die eine »ungeheure Macht« sei.

Der Rausch

Als Romantiker suchte Nietzsche das Authentische, im Rausch, in der Entgrenzungserfahrung, die ihm Wagner lieferte, wie den Hippies das LSD. Unter Romantik verstand er: »Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hilfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehen werden.« Die Ekstase als Prinzip verband er später mit Dionysos, dem Gott der »unbildlichen Kunst der Musik« und der »Kunstwelt (…) des Rausches«. Er sah sich als der »›Wissende‹ (…), Eingeweihte und Jünger (dieses) Gottes«, »Jünger der wiederauferstandenen Kunst« und nannte seine Figur Zarathustra seinen »dionysischen Unhold«.

Bei der Rauschsuche ging es ihm dabei nicht um das Gute, Wahre und Schöne. Es ging ihm um die Romantik des Todes, das Pessimistische und das Abgründige. Kunst- und Philosophieekstase würden »immer Leiden und Leidende voraus(setzen)«. Nietzsche wendete sich gegen sokratische Moral, Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit und sah darin die Grundlage für den Niedergang der griechischen Kultur. Er plädierte für Pessimismus, fragte: »Ist Pessimismus notwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Mißratenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte?« Oder gebe es »einen Pessimismus der Stärke?«, der sich auszeichnet durch eine »intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins«. Mit dieser Zivilisationskritik aus seiner Erstlingsschrift »Die Geburt der Tragödie« war bei allen Wandlungen sein Lebensthema abgesteckt.

Krieger-Männer

Es ist kein Wunder, dass später bürgerliche Intellektuelle wie Ernst Jünger mit Nietzsche im Tornister in den Weltkrieg zogen. Nietzsche tickte, ungeachtet eines Gelegenheitspazifismus, selbst so. Es war die Zeit der Reichseinigungskriege von Bismarck, dessen »rücksichtslose Konsequenz« und »Machiavellismus« er lobte. Nietzsche wollte dienen. Es sei »nachgerade unehrenhaft, zu Hause zu sitzen, wo das Vaterland einen Kampf um Leben oder Tod beginnt«. Schon vor dem preußisch-österreichischen Krieg schrieb er aufs Soldatische bezogen: »Ich wünschte mich öfter herausgerissen aus meiner gleichförmigen Arbeit.« Als er im Oktober 1867 als Freiwilliger einrückte, da gefiel sich »Nietzsche als Krieger«, so wie er sich in Positur stellt. Freilich war der Dienst wenig ritterlich; er fiel vom Pferd und fühlte sich »ziemlich einsam«. Im deutsch-französischen Krieg taugte er nur zum Sanitäter. Aber: »Ich bin meiner Art nach kriegerisch.«

Nietzsche war tatsächlich ein maskulinistischer Denker. Der »Übermensch« ist in Wahrheit ein Über-Mann. Das »Höhere«, schrieb er, »ist männlich«. Die Moral, die er überwinden wollte, und die Tugenden, die zum Beispiel gebieten, sich nicht »gelüsten (zu) lassen meines Nächsten Magd«, erschienen ihm als »artige Weiblein«.

Nietzsche wollte Krieger sein, mit dem Hammer philosophieren und schrieb in seiner Selbstkritik, die »Geburt der Tragödie« sei »gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen«. Er ging von einer binären, rigiden »Zweiheit der Geschlechter« aus, die sich in »fortwährendem Kampfe« mit »nur periodisch eintretender Versöhnung« befänden, und meint, dass man »über das Weib (…) nur zu Männern reden« solle, dass »alles am Weibe (…) eine Lösung« habe, »sie heißt Schwangerschaft«, und der »echte Mann« von der Frau nur »zweierlei« wolle: »Gefahr und Spiel.« Die Frau, die emotionale Arbeit leistet, ist sorgende Dienerin: »Der Mann soll zum Kriege erzogen werden und das Weib zur Erholung des Kriegers; alles andere« sei »Torheit«, und die »Ehre« der Frau sei »immer mehr zu lieben, als ihr geliebt werdet«. »Das Glück des Mannes« heiße: »ich will«, »das Glück des Weibes« heiße: »er will«.

Es war Nietzsche, der mit dieser toxischen Männlichkeit Theodor Däubler zu seinem Geschlechterkrieg-Versepos inspirierte, das wiederum Carl Schmitt begeisterte.

Das Männliche meint dabei immer den Krieg, weshalb sich die bürgerliche Kriegsbegeisterung von 1914 vielleicht ohne Nietzsche, Nietzsche aber nicht ohne die bürgerliche Kriegsbegeisterung denken lässt. Er schrieb von seinem »Glauben an eine Vermännlichung Europas«: Man müsse es Napoleon danken, dass er den (Befreiungs-)Nationalismus hervorgebracht habe, weil der den Gedanken der »Brüderlichkeit von Volk zu Volk und allgemeinen blumichten Herzens-Austausch« überwinde und wegen ihm nun, Gott sei Dank, »ein paar kriegerische Jahrhunderte aufeinander folgen« dürften, »die in der Geschichte nicht ihresgleichen haben, kurz dass wir ins klassische Zeitalter des Kriegs eingetreten sind«, weswegen »alle kommenden Jahrtausende« auf diese Zeit, das 20., das 21. Jahrhundert »als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und Ehrfurcht zurückblicken« würden. Aus der »nationalen Bewegung« wachse diese »Kriegs-Glorie« heraus, und damit verband Nietzsche die Hoffnung, »dass der Mann in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister« werde und »vielleicht sogar über ›das Weib‹, das durch das Christentum und den schwärmerischen Geist des 18. Jahrhunderts, noch mehr durch die ›modernen Ideen‹ verhätschelt worden« sei.

Zugleich gibt es auch immer wieder Passagen, die zeigen, dass Nietzsche kein glühender Deutschnationalist war: Die »Vaterländerei (so heiße ich das, was man in Frankreich chauvinisme, in Deutschland ›deutsch‹ nennt)« war ihm zuwider als Ausdruck von »Gläubigen« mit dem »Bedürfnis nach Glauben«, die sich in diese »ärmlichen Ecken und Engen verlieren«. Es ist das Aristokratische, das Nietzsche punktuell vor dem Chauvinistischen, und seine Verachtung des Plebejischen, die ihn vor dem Völkischen bewahren. Aber das macht es nicht besser. Nietzsche war Europäer. Aber die »Sprengung der nationalen Grenzen«, die europäische Idee, diente, wie der Philosoph Bernhard H. F. Taureck richtig interpretierte, dem Zweck einer »neuen politischen Kasten- und Rangordnung durch Züchtung einer gesamteuropäischen oder globalen Herrenkaste«.

Zivilisationsmüdigkeit

Nietzsche war kulturpessimistisch, geprägt vom »tiefen Haß gegen ›Jetztzeit‹, ›Wirklichkeit‹ und ›moderne Ideen‹«. Seine Zivilisationsmüdigkeit verband sich mit der früh erlernten Massenverachtung, die in den Gegensätzen von »edleren Genossen« und »kläffender Meute«, Hoch- und »niederer Kultur«, »Herrenmoral« und »Sklavenmoral« erscheint. Er schrieb im Widerspruch zu allem Demokratischen und Egalitären, »allen ›modernen Ideen‹ und Vorurteilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz«. Er sah sich im Umgang mit den Mitmenschen gezwungen, »die Maske einer Gelehrsamkeit« aufzusetzen, »die ich nicht habe«, und war zugleich überzeugt: »Studenten sind so dumm, Professoren sind noch dümmer!«

Zum Glauben an die eigene Genialität gehörte auch Nietzsches konsequente Verweigerung einer Systematik wie der Kants und Hegels – er schreibt in reizvollen Aphorismen – und die Absage an das »Stehen auf den Schultern von Riesen«: Er ätzte gegen den Philosophen, der in den engen Rahmen der akzeptierten Wissenschaft »einige Jahre« darauf verwendet, ein »mühsam zusammengedachtes System« zu entwickeln. Man könne »nicht selbständig genug seine Bahnen gehen. Die Wahrheit«, so Nietzsche, wohne »selten dort, wo man ihr Tempel gebaut und Priester ordiniert« habe.

Nietzsche sieht sich selbst als »Störenfried in der Wissenschaft« und hat dabei etwas von einem libertären »rebel without a cause«, der sich von niemandem etwas vorschreiben lässt, nur tun möchte, was ihm Spaß bereitet, der sich »den Dingen und Menschen nicht länger hingeben« will, »als bis ich sie kennengelernt habe«. Nietzsche wollte authentisches Leben, Wahrhaftigkeit. »Suchen wir denn bei unserem Forschen Ruhe, Friede, Glück?« schrieb er an die Schwester. »Nein, nur die Wahrheit, und wäre sie höchst abschreckend und häßlich«. Sein Ziel: »um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden«, »krank sein und die Tröster heimschicken«, »in schmutziges Wasser steigen, wenn es das Wasser der Wahrheit ist«. Wäre Nietzsche ein Schriftsteller der 1950er Jahre gewesen, hätte er Bücher wie den »Fänger im Roggen« geschrieben. Oder andersherum: In J. D. Salingers Verachtung der »phonies« unehrliche, spießige Menschen – steckte auch etwas Nietzscheanisches.

Ideologiekritik

Hier kommt der aufklärerische, ja in Teilen auch fortschrittliche Nietzsche ins Spiel. Sein Bruch mit der Konvention war durchaus gedankenbefreiend und ideologiekritisch zum Bestehenden, kann dazu dienen, sich das »Gefühl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Übermut« zu verschaffen. Der »freie Geist« des Antikonventionellen erhob sich über den »gebundenen Geist« der Konvention. »Von vier Gattungen der Dinge« würden »die gebundenen Geister« sagen, »sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche uns Vorteil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht.«

Die »freien Geister«, die Nietzsche feierte, sind die, die sich gegen den Konformismus stellen, die sich absondern, deren »Geist« sich »in der einsamsten Wüste« in einen »Löwen« verwandelt, der die »Freiheit (…) sich erbeuten und Herr sein (will) in seiner eigenen Wüste«, die dem »Du sollst!« der Gesellschaft ein »Ich will« des Individuums entgegenschleudern, als »Wille zur Wahrheit« und »Wille zur Macht«. Die Bedeutung des Freigeistes sei im übrigen nicht, »dass er richtigere Ansichten« habe, »sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Mißerfolg. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die anderen Glauben.«

Der »gebundene Geist« nehme »seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung, er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden« habe, »sondern er fand das Christentum und das Engländertum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird«. Später finde er dann sicherlich »Gründe zugunsten seiner Gewöhnung«, aber »Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben«. Jeder Glaube sei »auch untrüglich«, er leiste »das, was die betreffende gläubige Person darin zu finden hofft, er bietet aber nicht den geringsten Anhalt zur Begründung einer objektiven Wahrheit«. Hier würden sich nun »die Wege der Menschen« scheiden: »Willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche.«

Nietzsche feierte die innere Unruhe und den »Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die ›Mensch‹ heißt, als Ausmesser jedes ›Höher‹ und ›Übereinander‹, das gleichfalls ›Mensch‹ heißt«. Er pries die »Vorteile der psychologischen Beobachtung«, die »den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein wenig wohler fühlen« kann. »Du solltest«, schrieb er in »Menschliches, Allzumenschliches«, »Herr über dich werden«. Dabei klingt Nietzsche wie der Leiter eines Coachingseminars: »Finde dein inneres Ich«, »Sei immer nur du selbst«, »Hör’ auf deine innere Stimme«. Er liefert Material für noch jeden Kalenderspruch warenförmiger Individualitätsduselei: »Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.«

Ingar Solty schrieb an dieser Stelle zuletzt am 18. Juli 2025 über Hitlers »Mein Kampf«, das vor 100 Jahren erschien: »Verkrachte Existenz«

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